Samstag, 20. November 2010

Wenn ich Groß bin. Tag 6/2: Es ist himmelschreiend kompliziert und so einfach wie Rührei braten.

„Hast du sie noch alle stramm?“, wiederholt Svenja hastig.
Lass mich überlegen, will ich antworten und überlege stattdessen, komme zu dem Schluss, Ja, aber auch, dass siean diesem Zustand nicht unbeteiligt ist. Ich blicke zu Tom, der mich abwartend mustert, blicke zu Svenja, blicke zur Decke, fühle meine Wange, taste bis zur Schläfe, wo der Bluterguss sein muss.
„Weißt du…“, setze ich an, entscheide mich dann dafür, mir noch zwei drei Sekunden mehr Zeit zu schenken.

Tom tippt mit seiner Fuß abwartend, nervös, macht mich damit auch nervös, ich möchte knurren und ihn aus dem Fenster schubsen. Ich fühle mich wie in einem Halbfinale, 90. Minute, ich laufe auf das Tor zu, hinter mir Tom, er ist dicht an meiner Ferse, ich könnte mich fallen lassen und einen Elfmeter herausholen und es würde vermutlich von Svenja gepfiffen und dann bräuchte ich bloß verwandeln, ich hätte es in der Hand, ganz alleine ich.

Ich denke an meinen Vater, sehe ihn vor mir, wie er sich, als ich klein war vor meinen Augen rasierte, er benutzte dafür ein Rasiermesser. Dieses Rasiermesser würde ich gerne nehmen und Tom seinen blöden Ausdruck aus dem Gesicht schnitzen, ihn einfach wegschnitzen.
Lass ich mich fallen oder hol ich einer Verlängerung raus oder passe ich ihm den Ball zu und mache Fairplay oder versage… oder was?
Sie hat Recht, ich habe sie nicht alle stramm, aber vermutlich liegt es doch nicht an ihr sondern ganz allein an mir, ich sollte meine Mutter anrufen und sie fragen, ob ich schon immer so bescheuert war und sie würde mich fragen, wie ich denn jetzt darauf käme, also lass ich das wohl doch besser.
„Torben?“

„Ich bin gestolpert und gegen das Waschbecken geknallt…“, antworte ich kleinlaut und lasse meinen Kopf hängen, der Ball springt von meinem Fuß weg, ich blicke jetzt zu Tom um zu sehen, ob er klären kann.
„Tom?“, fragt Svenja kritisch, „stimmt das?“
„Ähm…“, sagt er, vermutlich hat er gehofft, er könnte mich mit einer Blutgrätsche massakrieren oder das Spiel durch meine Schwalbe ganz für sich entscheiden.
„Ja…“.
„Ja? Ihr seid doch echt bescheuert!“
„Es geht schon“, sage ich und streichel mir betroffen durchs Gesicht und zwinker ihm offensiv zu, vielleicht versteht sie das ja falsch, ich zwinker einfach, ein Impuls, ich liege am Boden und halte mir das Bein.
„Tom?“
„Ähm!“
„Was war das für ein Zwinkern? Was bedeutet das?“
Tom räuspert sich laut ohne Recht zu wissen, wie ihm gerade geschiet, er sieht mich nicht an, er sieht sie an, zuckt mit den Schultern, ist überfragt.
„Was macht er überhaupt hier, ich dachte wir seien verabredet?“ falle ich ins Wort.
„Genau, was machst du überhaupt hier?“
„Ich weiß nicht“, sagt er als würde er plötzlich zweifeln, ob er es nicht doch war, der mir das satte Ding verpasst hat, also greift er seine Jacke, geht zur Tür. „Vergiss nicht zu packen, Schatz!“.
Mir schwirrt „Arschloch“ durch den Kopf, ich tigere zum Sofa.
Das wäre geschafft.

Als die Tür sich schließt, bringt Svenja den Kuchen in die Küche, verteilt ihn auf zwei kleine Teller und bringt sie samt einem Beutel mit Eis an den Tisch, setzt den Kuchen ab, setzt sich neben mich und legt den Beutel an mein Gesicht.
„Fffff“, zische ich, „Halt still“, sagt sie und streichelt mir durch den Pony.
„Stimmt ja, ihr fliegt morgen nach Prag, ne?“. Svenja nickt.
„Schade. Es geht gerade alles so schnell, so schnell für mich. Als ob das alles an mir vorbei zieht. Und in solchen Momenten stolper ich gegen so ein beschissenes Waschbecken.“
„Gegen ein Waschbecken…“, wiederholt sie ungläubig.
Ich beteuere, dass es genau so gewesen ist, werfe aber zur Sicherheit ein, dass ich nicht denke, dass Tom und ich Freunde werden und räume ein, dass mir das scheißegal ist, dass ich daran kein Interesse habe, egal, wie lange die beiden zusammen sind.
„Das Päckchen“, sage ich, „wirst du das vorher noch öffnen?“
Sie antwortet, dass sie eigentlich darüber nachdachte, es erst nach der Reise zu öffnen und quetscht ein Lächeln hervor, von dem ich nicht weiß, was es bedeuter.
„Öffne es vorher.“
„Jetzt?“
„Wer weiß…“
„Na gut.“

Als ich klein war, hatten wir ein ausladendes Ledersofa im Wohnzimmer stehen, direkt auf den Fernseher gerichtet. Ich turnte immer darauf rum, während ich fernsah, doch wenn „Der kleine Vampir“ kam, erinnere ich mich, und der kleine Anton Bohnensack als Vampir verkleidet gemeinsam mit Rüdiger in die Vampirgruft ging und sein bloßer menschlicher Angstschweiß ihn jeden Moment als Fremdkörper hätte entlarven konnte, wurde es mir zu spannend und ich kauerte mich zur Sicherheit hinter dem Sofa zusammen, blickte hektisch hinter der Lederkante hervor und wartete, ob etwas Schlimmes passiert und kam erst hervor, wenn die Situation vorbei war.
Ich wünschte, das Sofa wäre jetzt hier.
Ich kann Svenja nicht ansehen, während sie das Paket bedächtig öffnet, die kleinen Präsente bergt wie eine Ärchologin, die etwas über die Beziehungen zweier alter Völker in Erfahrung bringen will, ein uraltes Rätsel lösen möchte, ich höre sie immer wieder kurz und mädchenhaft kicher, das Kichern macht mir Mut.
Sie legt die Musik ein, sofort kommt Paul Simon.

"The problem is all inside your head", she said to me

The answer is easy if you take it logically

I'd like to help you in your struggle to be free

There must be fifty ways to leave your lover”

Meine Gesichtshaut brennt, ich laufe knallrot an, ich möchte im Boden versinken, bitte, Gott, wo ist mein Ledersofa, schnell in Deckung, Svenja starrt aus dem Fenster, wippt mit dem Kopf zur Melodie.
„There must be fifty ways to leave your lover“, sagt sie. Sie lacht kurz.
“There must be fifty ways to leave your lover”, stimme ich zu.
“Tom ist nicht mein Lover. Er ist mein Freund.”
„Darum geht es doch gar nicht… Schatz“, presse ich hervor.
Ob ich mir das so einfach vorstelle, fragt sie, ich antworte, dass es im Grunde zugleich himmelschreiend kompliziert sei und so einfach wie Rührei braten. Es kommt darauf an, ob man Rührei wolle.
„Du bist Rührei?“
„Wenn du wüsstest, wie es sich gerade in mir anfühlt… Rührei. Ja.“ Jetzt lache ich zum ersten Mal.
„Du bist bescheuert.“
„Ich weiß. Also?“
Sie kommt auf mich zu, streichelt mir über den Oberarm, ich greife nach ihrer Wange, ziehe sie heran, küsse sie, küsse sie noch einmal. Denke, dass das reichen sollte, müsste, muss.
Reichen. Scheiße.
„Vielleicht wäre es besser gewesen, du hättest Die Zeit heilt alle Wunder von den Helden aufgenommen.“
„Von welchem Wunder redest du? Von eurem oder von unserem.“
„Ach Torben.“
„Hop on the bus, Gus

You don't need to discuss much

Just drop off the key, Lee

And get yourself free”, wiederhole ich den Liedtext.
“Mein Bus fährt morgen erst mal nach Prag, danach sehen wir weiter.”
„Das Ganze wird ein Nachspiel haben, mein Fräulein“, antworte ich herrisch. Dann küsst sie mich erneut.