Mittwoch, 28. Juli 2010

Tag 3: Dienstag. Suche nach Svenjarusalem

Dienstag
Ich wache sehr früh auf, die Luft steht und das Einzige, was auf Durchzug gestellt ist, ist mein Kopf. Es wehen die Gedanken durch ihn hindurch wie Autos auf einer wie auf einer Autobahn, deren Baustelle Svenja heißt, so, dass sie auf vierzig km/h herunterbremsen und hupen und sich fragen, wann es denn wieder im normalen Tempo weitergehen wird.

Ich frage mich, was für ein absurder Tag das gestern war. Es wäre doch nichts weiter als eine Lüge, mir selbst weis machen zu wollen, ich könnte jetzt so weitermachen, mich jeden Tag so derartig ablenken. Die ganze Sache bedarf einer Lösung. Einer Entwicklung.

Ein Werbejingle blendet sich in meinen Ohren ein.
"Glück im Spiel, Pech in der Liebe".
Ich kann es nicht fassen. Was ist mit mir los?
Diese düstere Wahrheit, nein, sagen wir eine düstere Prophezeihung, hängt über meinem Kopf wie ein Damoklesschwert. Nein. Kein Damoklesschwert. Das wäre die dramatische Übertreibung eines achtzehnjährigen Abiturienten mit Geschichte-Leistungskurs.
Es ist vielmehr ein tropfendes Nutellabrotmesser.
„Tropfendes Nutellabrotmesser“.
Ja. Ich grinse. Das ist der richtige Weg.

Ich sollte weniger nachdenken, weniger Trübsaalblasen.
Abundzu ruft mich meine Mutter an und nach wenigen Minuten kommt die gleiche Frage, ob sich denn schon eine dauerhafte Dame in mein Leben verirrt hätte.
"Verirrt!". Wie vorsichtig sie das inzwischen formuliert.
Ich erkläre ihr dann immer, dass die Zeiten sich geändert haben, sage Dinge wie „In der Disco herrscht Krieg“ oder „Das ist nicht mehr so wie früher.“
Wir haben jetzt alle Freiheiten und können damit nicht umgehen.

Aber ja. Es herrscht doch wirklich Krieg. Es schenkt dir keiner was. Wieso sollte ich dann hier rumsitzen und auf ein Geschenk warten? Ich sollte es angehen wie Ernst Röhm, der war auch nie da, wo die Kriegsführung ihn erwartet hat. Doofes Beispiel, moralisch gesehen, er war ja ein Nazi. Aber vielleicht ist Krieg auch zu krass formuliert.
Eher ist es ein Spiel. Nicht so chauvinistisch gemeint, dass die Frau der Preis ist. Nein, wir spielen alle darum, uns zu finden. Der Preis ist dann Glück.

Meine Mutter sagt am Telefon dann immer, dass es sich nicht lohnt, sich deswegen so sehr zu sorgen oder zu jammern, weil das Schicksal, das könne man nicht beeinflussen und alles kommt irgendwie auf einen zu.
Zu einem Spiel gehören immer Zwei. Richtig. Aber es ist statistisch erwiesen, dass die Chance im Lotto zu gewinnen höher ist, wenn man einen Lottoschein abgibt, als wenn man zuhause sitzt und sich denkt „Ich gewinne ja eh nicht“.

Willst du jemanden wiederfinden, gehe an den Anfang zurück.
Ich schnappe mir ein paar Pfandflaschen. Das ist Argument genug, um in den Martkauf zu gehen.
Fußmarsch. Zweiundzwanzigminuten durch die Morgensonne.

Es zieht sich ganz schön, in der Eile und mit meiner wilden Entschlusskraft im Nacken habe ich glatt vergessen, mir Musik einzutüten. Der Soundtrack zu diesem Moment sind die Vögel, die rumkrakeelen und Schulkinder auf dem Weg, die offenbar schwänzen und sich über die letzte Folge von Pokemon oder so unterhalten. Erinnert mich an den Witz „Deine Mudder wirft eine Tomate auf den Boden und schreit Los, Pickachu.“ Tragisch, dass ich diesen Witz überhaupt verstehe.

Ich denke an ihn und lache laut. Die Kinder drehen sich zu mir um.
Einer von ihnen, ein Junge, kommt auf mich zu. Er muss etwa zwölf sein. Er sieht an mir hoch und mit einer hellen, leicht rauen Stimme, sagt er „Spielen Sie auch Pokemon?“
Sie. Für diese Kinder bin ich ein Erwachsener, ein alter Mensch. Das ist faszinierend. Ich fühle mich selber nie als erwachsen. Ist man irgendwann soweit, dass man das von sich sagen kann? Wenn ich an erwachsene Menschen denke, hab ich ein Foto von Sir Michael Caine vor Augen. Der kann das bestimmt von sich behaupten. Ich würde ihn aber nicht fragen „Spielen Sie auch Pokemon?“. Was ist das überhaupt für eine Frage?

„Musst du nicht in die Schule?“, frage ich trocken.
„Müssen Sie nicht zur Arbeit?“, antwortet er. Touché. Sein kleines, rundliches, marmeladenverschmiertes Gesicht machte garnicht den Eindruck, als würde es zu so einer sponanten Reaktion fähig sein. Das kann ja nur diese hektische, grelle, japanische Zeichentrickwelt verursacht haben. Altklug, wenn man bedenkt, das selbst Heidi und die Biene Maja japanische Zeichentrickserien waren. Und bei He-Man gab es auch immer dick auf die Fresse.

Ich zeige meinen Studentenausweis und sage, ich käme von der Stadtverwaltung und solle alle Kinder einsammeln und ins Heim fahren, die nicht sofort in die Schule gehen, wenn ich es ihnen sage. Ich schaue ernst, während der kleine dicke Junge zu seinen Freunden rüber geht, sie alle ihre Köpfe konspirativ zusammenstecken und über den Ernst der Lage diskutieren. Ich bin der Ernst der Lage.
Nachdem die Gefährten eine Minute flüsternd zusammenstehen, kommt ihr pummeliger Redelsführer auf mich zu, nickt und sagt, dass sie sich entschuldigen möchten und dass sie jetzt ganz schnell in die Schule müssten und bitten, dass ich noch einmal eine Ausnahme machen.
Ich willige gnädig ein.

Schnell rennen sie mit ihren klobigen Tornistern los und ich gehe weiter.

Ein Mädchen, das offensichtlich die komplette Situation mitverfolgt hat, kann nicht innehalten und sagt laut „Du bist auch ein ganz Cooler, was?`“
„Bitte?“.
„Ja, die Kinder so zu verarschen. Du hast wohl früher nie blau gemacht.“
„Doch sicher, aber ich wäre nicht auf den Trick mit dem Studentenausweis reingefallen.“
„Aha. Ich finds nen bisschen arm.“
„Du hast auch keine Hobbies oder wieso kackst du mich jetzt blöd von der Seite an?“
„Ich wollt es nur mal sagen.“
„Du hättest ja den Kindern auch helfen können anstatt rumzustehen, oder? Was hab ich schon Schlimmes getan? Die gehen jetzt in die Schule und lernen was, da kann man doch kein Problem mit haben. Miss Correctness.“
„Ach weißte…“
„Ja, natürlich weiß ich! Oder was willst du mir erzählen?“
Ich fauche allmählich und spüre, wie mein Puls steigt, weil ich Lust kriege sie verbal so zusammenzufalten, dass ich sie in einen Einkaufswagen stecken kann, anstelle von einem Ein-Euro-Stück.
Aber sie wiegelt ab.
„Ja, Ja, ist ja ok.“
Und weg ist sie wieder.

Typisch. Rumstehen und sich das seelenruhig angucken und mir hinterher erzählen wollen, ich sei schlecht. Anstatt etwas zu unternehmen erst mal warten, ob es nicht einen Grund gibt, um ordentlich zu meckern.

Ich komme im Marktkauf an und es ist dort relativ beschaulich und leer. Wie gemütlich das doch ist, so früh am Tag schon etwas zutun. Ich fühle mich geradezu vital.
Nachdem ich den Automaten mit Flaschen gefüttert habe, gehe ich los und schlender durch die Regale, beginne zu flüstern „Miez, Miez. Wo ist die Svenja? Miez. Miez.“
Es hilft nicht wirklich, außer, dass ein Regaleinräumer in grüner Weste mich fragt, ob es mir denn gut ginge. Ich antworte inbrünstig, dass dies natürlich der Fall sei und ob es ihm denn auch gut ginge und dass es mir ja nicht so gut gehen würde, wenn ich so früh am Tag in einer grünen Weste Regale einräumen müsste und dass ich es bewundernswert finde, dass er trotzalledem noch den Kopf so frei hat, sich um seine Mitmenschen, seine Kunden zu kümmern.

Mein grüner Held am Morgen erweist sich als smart und antwortet grinsend
„Wir sind hier ja auch nicht im Lidl.“
„HaHa“, lache ich wie ein alter Mann, der sich mit seinen Rentnerkollegen zum Boules spielen auf dem Ascheplatz trifft und gerade erfährt, dass man besser schneller loslegen soll, da die anwesenden Herren ja so jung nicht mehr zusammen kämen.

Ich gehe weiter und in einer leichten Drehung fange ich noch ein, wie der Regalheld mir den Vogel zeigt.
„Ihnen auch noch einen schönen Vormittag“, rufe ich in meinen Rücken.
„Ebenso“ peitscht er wie aus einer Steinflitsche geschleudert zurück.

Irgendwann krieg ich hier Hausverbot, also sollte ich schnellstens Svenja finden.
Ich komme in der Gemüseabteilung an, aber sie ist nicht da.
Ich gehe auf und ab und auf und ab. Ein älterer Herr mit weißem Kittel, der mit einer Hubkarre einen Stapel Saftpakete von A nach B fährt bleibt stehen und erkundigt sich, ob ich etwas Bestimmtes suche.
„Svenja“, sag ich.
„Ehm, bitte?“ antwortet er.
Ich nicke, bemühe ein Grinsen, „Nein, ich warte auf eine Bekannte, wir wollten uns hier treffen.“
„Kann ich ihnen sonst noch irgendwie helfen?“
„Ich komme zurecht.“
„Wunderbar.“
„Wunderbar.“
Wir wollten uns hier treffen. Schön wäre es.
Aber nein. Sie kommt nicht. Es wäre auch zu einfach, denke ich mir.
Und verlasse den Supermarkt über den Serviceschalter und vergesse, meinen Pfandbon in Hartgeld umzuwandeln.

Ich biege vor dem Markt seitlich in die andere Straße, die nicht nach Hause führt, sondern in die Fußgängerzone. Ich könnte mir ein Eis gönnen, beschließ ich.
Ein Blick auf die Uhr. Zehn Uhr.
„Ok, dann doch kein Eis… Kaffee!“
Kaffee! Ja. Ich brauche für alles einen Anlass. Wieder hab ich einen gefunden.

Ich laufe vorbei an einigen Bäckereien. Ja, wie gut das morgens riecht, wenn da noch etwas Frisches aus dem Ofen kommt. Ich sollte wirklich öfter mal früh aufstehen.
Ich komme in der Fussgängerzone an und mein Schritt treibt mich schnurstracks auf eine Buchhandlung zu. Erstmal Zeit schinden und Regale durchgucken, so mein Plan.
Nachdem ich meine persönlichen Tiefpunkt, die Bestsellerliste, erreicht habe nehme ich mir eine aktuelle Spiegel-Ausgabe, bezahle mit Karte, überlege kurz, ob ich es noch als Geschenk an mich selbst einpacken lassen soll. Die Verkäuferin, die selber nicht besonderes belesen wirkt, dafür, dass sie in einer Buchhandelskette arbeitet, ist aber schon aufgrund meines Wunsches, mit Karte zu zahlen, so genervt von mir, dass ich ihr das Einpacken erspare... beziehungsweise, ich erspare ihr, mir diesen geringen Wunsch verwehren zu müssen.

Alleine da sitzen ohne etwas Lesestoff dabei zu haben ist nicht sehr erquickend, denn man kann sich so gut tarnen, während man die Menschen beobachtet, wenn man liest.
Im Café angekommen kann ich froh sein, denn es gibt wirklich mehr als genügend Menschen, die ich über meine Zeitschriftenkante hinweg observieren kann.

Besonders angetan bin ich von einer älteren Dame, drei Tische rechts von mir. Sie hat lockige, violett-weiße Haare, einen Leguan-Hals und sie trägt einen türkisen Plastiktrenchcoat. Ob ich der einzige bin, der sie bemerkt? Sie war, als sie jung war bestimmt voll die Stylerin. Eine Grande Dame, möchte ich meinen, wie sonst könnte man so selbstverständlich in so einem abgefuckten Outfit rumsitzen und so seriös nach rechts und links blicken, während man sich selbst etwas zuflüstert?
Vielleicht bin ich in einem Stanley Kubrick Film und habe es selber noch nicht gemerkt?
Unglaublich. Ich würde gerne zu ihr hingehen und ihr sagen, dass alles in Ordnung sei und sie die coolste, hippeste und lässigste ältere Dame sei, die ich kenne und dass es tragisch ist, dass Frauen wie Inge Meyel und Brigitte Mira immer schon von den Medien gebauchpinselt wurden während sie hier fernab der Kamera mit ihrem Stilbewusstsein gegen die dementierende und nagende Wirkung des Verblassens ankämpft

Eine Hand legt sich auf meinen Tisch. Ich sortiere meine Gedanken, will gerade zur Bestellung ausholen, da spricht es
„Hello, Torben!“
Überrascht springt mein Blick auf. Sie ist es. Svenja.
„Hey, DU!“, patzt es aus mir heraus.
„Na, was machst du hier?“
„Setz dich, dann erzähl ich es dir.“
Sie setzt sich.
„Von hinten oder von vorne, die Geschichte?“
„Oha, eine Geschichte… wie du meinst.“
„Ich hab mir heute morgen einfach gedacht, dass es witzig wäre, wenn ich in die Gemüseabteilung ginge und du auch da wärst.“
„Oh.“
„Ja, aber du bist nicht da gewesen. Und weil es so schön ist draußen, dachte ich, ich gehe einen Kaffee trinken. Ich erzähle davon, wie ich versuchte, sie mit meinen Mizemiezlockrufen anzulocken, aber nur ein Marktkaufmitarbeiter meinem Ruf folge leistete.
„Das ist irgendwie… süß“
„Ja, aber verrat ess nicht weiter.“
Sie legt ihren Finger vor ihre Lippen und macht ein „Pscht“.
„Trinken sie einen Kaffee mit mir, Mad…moiselle?“
„Aber con grande plesoro“
Der Kellner findet auch erbarmen und nimmt unsere Bestellung entgegen.
„Ich bezahle dann direkt, wir wollen gleich vielleicht noch weiter.“
„Natürlich“, sagt er, als hätte er noch nie etwas anderes erlebt.
„Getrennt oder…“
„Zusammen“, sage ich, ehe Svenja darauf auch nur reagieren kann und lege es passend aus.
„Danke...“.
„Ach, du hast die Muffins bezahlt, alles gleicht sich wieder aus“ zwinker ich ihr zu, auch wenn das mit den Muffins nicht stimmt, aber darum geht es auch nicht. Es geht nicht immer darum, ob man sich als der Stärkere oder Bessere auszeichnen will, es ist ein Beweis von Zuneigung.

„Und warst du sehr traurig, dass ich nicht da war?“
„Ja, ich habe auch etwas geweint.“
„Oah! Wirklich?“
„Ja, aber dann kam ein Mitarbeiter und hat mich getröstet.“
„Das ist ja lieb.“
„Aber beim nächsten Mal bist besser du wieder da“.
„Ich verspreche es. Und, hast du heute sonst noch etwas erlebt?“
„Ja, ich habe Kinder vor der Verdummung gerettet und ihnen verdeutlicht, dass man mit einer Hochschulbildung klar im Vorteil ist.“
„Oho, der feine Herr. Wie denn das?“
„Ich habe sie dazu gebracht, zur Schule zu gehen. Durch pure geistige Überlegenheit.“
Ich zeige auf meine Stirn. „Da muss man’s haben!“
„Und der Altersunterschied hat da natürlich überhaupt keine Rolle gespielt, nicht wahr?“.
Sie lacht. Süß.
„NEEEIN, natürlich nicht. Das waren schon sehr gerissene kleine Kinder. Alter, isch schwör.“

Wir unterhalten uns wieder ausgiebig über ihren gestrigen Tag und über ihren Wunsch, auszuziehen und darüber, wie nervig sie ihre Mitbewohnerinnen findet. Ich erzähle ihr von meinem Montag, dem Spieleabend und dass ich zum allerersten Mal beim Siedlern gewonnen habe. Sie mag Siedlern und ich verschweige, dass ich es nicht mag. Die Passage um Martha wird auch um einige Details beschnitten.

„Du, morgen… hast du da was vor?“, fragt sie mich irgendwann, steht auf und blickt auf ihre Uhr. Sie muss wohl los.
„Morgen?...“ sage ich langsam und gebe vor, zu grübeln, „…wieso? Was ist denn da?“
„Ich bin alleine zuhause und vielleicht kann man ja später noch rausgehen. Tanzen.“
„Klingt nicht schlecht.“
„Du kannst ja vorbeikommen, wann du möchtest.“
Wird sie denn noch andere Gäste da haben?`
Wird er da sein? Wir haben garnicht darüber gesprochen. Sollte ich das? Gibt es etwas zu klären? Sollte man es einfach hinnehmen?
„Wann ist es dir recht? Sag mal eine Ordnungszahl?“
„Von mir aus auch den ganzen Tag, hehe. Um sieben?“
Sieben. Das ist viel Zeit, bis es dann mit Tanzen weiter geht.
„Dann haben wir genügend Zeit und müssen nicht gleich weiterhetzen. Ich habe auch Vodka da, du könntest dann vielleicht etwas Saft mitbringen? Ist das ok?“
„Hmm. Vodka. Ja, auch das ist ok.“
Das läuft doch schon wieder sehr glatt. Und doch, es gibt doch eine Kante an diesem Tisch, sie heißt Tom. Was sollte ich tun?
Hmm. Es klingelt in meinem Kopf. Es ist meine Mutter. Ich sage ihr, dass Krieg in der Disco herrscht. Naja. Krieg ist zu krass ausgedrückt. Das ist ein Spiel. Und es schenkt dir keiner was. Und wenn du im Lotto gewinnen willst, musst du vorher zur Filliale.
„Ok, abgemacht.“
„Prima“, sagt sie und schreibt mir ihre Nummer auf ein Stück Papier.
Ich grinse. „Wie Sonntag“, sage ich.
„Der Spruch, der mit dem Gorilla, das war nicht so nett. Weißt du, es ist nicht so…“
„ ..Nicht so, wie ich denke?“
„Ja…“
„...Naja, geht es hier um uns, oder um ihn?“ Keine Ahnung, wo dieser Spruch wieder den Weg auf meine Zunge hergefunden hat. Manchmal scheine ich eine Suffleuse zu haben, wie bei Amélie.
„Ja, genau…“
Ich bin nicht sicher, ob wir das alles so unausgesprochen lassen sollten. Aber wer weiß, was sie da morgen plant. Meine Gedanken werden schmutzig.
Scheiß auf Tom, zumindest für den Moment. Es ist Sommer.
„Dann bis morgen, du musst mir noch deine Adresse sagen“
„Ach stimmt.“
Sie kritzelt mir die Adresse auf das Zettelchen unter ihre Handynummer.
„Und melde dich, wenn noch etwas ist“, zögert sie hervor.
„Werde ich nicht. Ich werde da sein.“
„Ich auch. Du, ich muss jetzt leider los. Ich freu mich auf dich, Torben.“ Sie gibt mir einen Kuss auf die Wange, dreht sich und schlendert ist die Mittagssonne.
„Ja…“, sage ich und muss lächeln. Es ist Sommer.
Das Spielbrett ist aufgestellt. Jetzt müssen sich die Figuren bewegen.

Sonntag, 18. Juli 2010

Tag 2: Man sollte nicht spielen, wenn man Glück bei den Mädchen sucht. Oder?

Montag.
Ich bin mir nicht sicher, woran es liegt, aber ich halte mich wacker
Ich denke nicht die ganze Zeit an Svenja, ich blicke nicht alle fünf Minuten auf mein Handy, wartend, dass da eine SMS auftauchen könnte oder ein Anruf.
Mars hat eine ganze Reihe an Freunden eingeladen und wir sitzen seit 13 Uhr zusammen bei uns in der Wohnküche, spielen Bohnanza und Kniffel anderen Kram.
Es wird viel genascht, geraucht und gegen sechszehn Uhr ist die erste Flasche Bier geöffnet.

Ich bin heilfroh über die ganze Ablenkung und versuche diese Tatsache zu verbergen, während die anderen schon die dritte Mahlzeit einnehmen.
Plötzlich mustert Anja mich kritisch.
„Sag mal, Torben, du isst heute gar nichts?“
„Wie?“
„Na. Was ist denn an der Frage so schwer zu verstehen?“
„Ich weiß nicht, hab ich heute noch nichts gegessen?“
„Nein.“
„Hast du etwa mitgeschrieben?“
„Ja.“ Ganz schön frech.
„Dann sollte ich doch eher dich fragen, wieso du so an meinem Essverhalten interessiert bist.“
„Lenk nicht ab!“
Es wird ein bisschen lästig, ich habe keine Ahnung, wieso mir nicht nach Essen ist, es ist mir auch zu dumm, darüber nachzudenken, geschweige denn, mit ihr darüber zu diskutieren.

Wiederwillig nehme ich eine Schüssel aus dem Schrank, kippe Choco Pops hinein, krame kalte Milch aus dem Kühlschrank, gieße sie laut und demonstrativ darüber, wasche mir einen Löffel ab, setze mich an den Tisch und schmatze Anja an.
„Zufrieden?“
Sie nickt zuerst aber dann befällt es sie doch und sie beginnt, heftig mit dem Kopf zu schütteln, als könne sie so den Schwachsinn aus mir austreiben.
„Sag mal, schmeckt es?“, faucht sie schließlich.
„Natürlich! Du hast mich ja quasi vor dem Hungertod gerettet!“
„Man hört es!“
„Natürlich hört man es, sonst würdest du später wieder behaupten, ich hätte gar nicht… ne?“
„Kindskopf!“
„Mutterkomplexerin!“

„Jetzt hört aber mal auf“, fahren uns die anderen in die Flanke und ich lache los, weil es ein absolut absurdes Bild sein muss, wie wir so dasitzen, spielen, uns streiten und ich schmatzend Kindercerealien in mich hineinstopfe.
Wir gehen dazu über, Siedler zu spielen und eigentlich will ich mich schon verabschieden, da Siedler ein so ödes und langwieriges Spiel ist, bei dem im Grunde nach der Feldverteilung klar ist, wer gewinnen wird. Doch wie der Zufall es will, klingelt es an der Tür, noch ehe ich meinen Austritt aus dem Spieleabend bekanntgeben kann und es treten zwei hübsche junge Damen in die Küche, die sich als Anjas Freundinnen vorstellen.

Kurzerhand befällt mich ich doch die Lust, weiterzuspielen.
Die eine von ihnen heißt Helen, ist dreiundzwanzig und studiert Sport und Anglistik auf Lehramt. Helen ist klein, hat braunes Haare, einen frechen kleinen Zopf, wirklich schöne, grün-braune Augen und eine androgyne Figur mit kleinen Brüsten. Dazu trägt sie eine Brille. Sie hat sie ein hübsches Gesicht, es hat etwas Freches, vielleicht ist es auch die leichte Strenge in ihrem Blick, die mit der frechen Nase zusammen das Besondere ergibt. Schon als sie den Raum betrat bemerkte ich über ihre eng sitzende Jeans. Sie scheint etwas konservativ aber intelligent, eine fast schon großbürgerliche Verschlagenheit umgibt sie. Auch das hat seinen Reiz. Ich soll sie aber nicht näher kennenlernen.

Die andere Freundin heißt Martha. Martha ist fünfundzwanzig, etwa eins fünfundsiebzig groß, sie hat markantere Züge, eine längliche Nase, die ihrem Gesicht eine gewisse Weite verleiht, ihre Augen sind blassblau und sie hat einen sachten Bob mit Seitenscheitel, wodurch ihr Kopf wie gemalt auf ihrem langen Hals sitzt, der in ein üppiges Brustdelta mündet. Sie trägt ein rotes Shirt mit ovalem Kragen, der ihre Schultern freilässt, diese schlanken Schultern, die einen sinnlichen Kontrast bilden zu den schönen Brüsten, die das sonst leger fallende Shirt spannen lassen. Es fällt mir schwer, nicht andauernd hinzusehen. Ich erfahre, dass sie Romanistik im Master studiert, und dass die beiden Anja seit der Schulzeit kennen. Ich höre meine eigene Stimme, wie sie ihr Aussehen immer wieder von neuem beschreibt wie der Vertreter Verkaufssendung beim Homeshoppingkanal.

Wir alle haben wirklich schon ein, zwei Biere gezwitschert und auch die beiden Hübschen scheinen sich im Vorfeld mit dem einen oder anderen Schluck Wein versorgt zu haben. Sie sind redselig und kichern wie Schulmädchen. Es macht mich an.
Meine anfängliche Schüchternheit, die sich durch betretenes Schweigen und auf-das-Spielbrett-starren geäußert hat, verfliegt zunehmend und ich blicke immer mutiger zu Martha, ohne rot zu werden und lasse dabei verstohlen mein Auge über ihre Brüste springen. Sie bemerkt das und lässt es passieren.
„Und was machst du so, Torben?“, fragt sie irgendwann.
„Ich spiele Siedler.“

Ein dummer Spruch, von dem ich selber nicht weiß, aus welcher Ecke meines Gehirns er getropft ist und was ich damit zu missverstehen geben wollte.
„Ey, dann haben wir ja schon mal was gemeinsam“, sagt sie darauf hin und belässt es nicht bei meinem Trotz.
„Nein, im Ernst, ich studiere Medienwissenschaften.“
„Ah, ok. Ja, ich dachte mir das schon, das passt so ein bisschen zu dir…“
„…Aha?“
„Ja, du bist so ein flippiger Typ.“
Flippiger Typ. Darauf wäre ich nicht gekommen. Schon gar nicht darauf, dass sie in mir einen flippigen Typen sieht.
„Was heißt das genau… flippiger Typ?“
„Na so ein bisschen cool, nicht so überzogen, aber ich man hat das Gefühl, du bist eher locker und witzig.“
„Ah, ok.“
Ist das ein Kompliment? Ich tue mich schwer damit, aus solchen Aussagen Werturteile herauszulesen, vielleicht bin ich auch unsicher oder irgendwas? Oder liegt es am Bier? Was will sie mir sagen? Will sie mir etwas sagen? Will ich, dass sie mir etwas damit sagen will?

Jetzt stecken wir schon so schnell fest. Das wäre mir mit Svenja nicht... Svenja! Da fällt sie mir wieder ein und ich bin noch immer erleichtert, dass ich meinen Kopf von ihr frei halten kann. Immerhin hat sie sich auch noch nicht gemeldet bei mir gemeldet.

Martha beschließt inzwischen, dass sie auf die Toilette müsse. Sie steht auf und dreht sich und mir fällt auf, dass sie wie Helen einen schönen runden Hintern hat, der auf einem weiblichen Becken unterhalb von schmalen Hüften eine sehr weibliche Passform gibt. Mir läuft das Wasser sekundenlang im Munde zusammen, doch ehe jemand merkt, wie ich ihr auf den Po starre, wende ich mich wieder dem Spiel zu.
Es läuft es gut für mich und als ich die dritte Fuhre Erz hintereinander einfahre, kommt sie zurück und greift beim Hinsetzen kurz an meine Schulter. Ich drehe mich und sie lächelt.

Ich sehe ihr in die Augen und ein kleines Tilt erklingt.
Was passiert denn hier? Die Dinge könnten gerade aus dem Ruder laufen, ich sollte mir genau überlegen, wie es jetzt weitergeht, doch ich habe keine Chance, sie nimmt sofort das Gespräch auf und fragt mich, ob ich denn auch einen Witz erzählen könnte, wenn ich beim Spielen schon so viele witzige Sprüche reiße.
Ich möchte sie lieber auf eine harte Probe stellen, einen Witz nehmen, der gerade bei Mädchen oft nicht gut ankommt. Eine Art Abwehrmechanismus, um alle Eventualitäten auszuräumen.
„Was ist klein und rot und passt nicht durch enge Gänge?“
Sie zuckt mit den Schultern und starrt mich dabei fragend an.
„Ein Baby mit einen Speer im Kopf“
Sie haut auf den Tisch und fängt an, laut und dreckig zu lachen. Sie prustet förmlich.
Mist. Das findet sie witzig. Ein Pluspunkt für mich, ein Minuspunkt für ihre maskuline Lache.
„Mehr“, sagt sie.

Ich muss es anders probieren.
„Ein Hund und eine Kuh sitzen vor dem Fernseher, da kommt ein Schaf rein, läuft die Wand hoch, läuft die Wand wieder runter und verlässt den Raum. Da sagt das Hund ganz wütend zur Kuh Der hätte ja auch mal Hallo sagen können!.
Sie lacht wieder und fasst mich erneut an der Schulter.
Ich geb das Witzespiel auf und erzähle einfach noch drei weitere, über die sie sich komplett ausgießt.
„Mit dir wird es bestimmt nie langweilig“, sagt sie und sucht nach meinen Augen.
„Das mag schon sein, aber ich kann auch sehr langweilig werden.“
„Ach was…“
„Doch, doch, frag nur die anderen“, werfe ich in die Runde und hoffe auf Schützenhilfe, doch die anderen haben einen so fröhlichen Pegel erreicht, dass sie den mich in hohen Tönen loben.
Ich sehe sie mir genau an. Sie ist wirklich heiß, ich würde sie gerne küssen und mit ihr schlafen, einfach so, sie scheint wirklich nett zu sein, ein Mensch, den ich, wenn ich ihn richtig kennenlernte, sicher mögen lernen würde. Nur der Zeitpunkt ist nur so verdammt ungünstig. Und nach der Angelegenheit von Samstagnacht sind meine Fehlwürfe aufgebraucht. Ich muss mich besinnen.

Es kann ja nicht so sein, dass man immer alle Gelegenheiten gleichzeitig hat und danach wieder in eine Wüste aus Chancenlosigkeit gestoßen wird. Das erscheint mir als brüllend ungerecht. Ich sehe bereits vor mir, wie ich allen vor den Kopf stoßen werde und am Ende Svenja nur ein kurzes „Oh, das hab ich mir aber anders vorgestellt. Nämlich gar nicht“ in den Wind schreibt und ich den Worten hinterher gestoßen werde.
„Magst du mich mal so treffen?“, sagt Martha.
Ihre blauen Augen bohren.
„Es ist nicht so, dass ich nicht mögen würde, weißt du…“
„… Aber?“
„Aber, ich habe gerade erst ein Mädchen kennengelernt und ich sollte… ich möchte die Sache durchziehen. Ehm durchziehen, du versteht, was ich meine?“
„Ja“, seufzt sie, „war ja klar…“
„Nee ist nicht klar. Du bist echt hübsch und süß. Wir haben hier nur einen schlechten Zeitpunkt erwischt.“ Ich glaube, ich möchte jetzt sehen, wie sich das mit Svenja entwickelt.
„Naja, für dich ja nicht schlecht“ sagt sie, als bei mir die Spielwürfen fallen, ich eine Ereigniskarte ziehe, sehen mich alle und schreien laut
„Torben, du hast gewonnen! Der Wahnsinn. Du gewinnst doch sonst nie!“
„Glückwunsch“, sagt Martha und nickt mir nüchtern zu.

Ich habe mir lange Zeit gewünscht, mal in diesem Scheißspiel zu gewinnen. Bloß ein Mal, und nie hat es geklappt. Und jetzt. Jetzt passt es so gar nicht in meine Situation. So gar nicht in meinen Kran. Ich sehe Martha an. Ich denke an Svenja und eine Stimme in mir holt diesen Satz hervor, dieses eine Zitat.
Ich schüttle mich innerlich. „Nicht dieses eine Zitat“, denke ich.
Aber dann dröhnt es:
„Glück im Spiel, Pech in der Liebe.“
Sind wir nicht alle manchmal abergläubisch?

Dienstag, 13. Juli 2010

Tag 1/Tag 2: Noch ein Abend trennt mich davon, Svenja wieder zu sehen. Das sollte ich doch schaffen.

Ich habe letztens gelesen, dass man, wenn man glaubt, sich zu verlieben, nur seine Sehnsüchte auf andere projiziert. Dieser Nachmittag machte mich sehnsüchtig.
Ich gehe also Richtung Süden, nach Hause und als ich ankomme sind Mars und Anja in der Küche und rauchen. Ich versuche, unauffällig zu sein.

„Na du? Wo kommst du denn her?“
„Von draußen“, sage ich.
„Aha? Was ist dir denn passiert?“, fragt Anja sofort mit hoher, suggestiver Stimme.
„Mir? Ich habe eine kleine Katze gesehen, die einen Ball verfolgt hat. Die ganze Straße runter.“
„Achso.“, sagt sie, etwas enttäuscht. Die Ausrede mit der Katze ist plausibel genug, um mein Grinsen zu erklären, das ich nicht verstecken kann.
„Wir wollen morgen an den See. Und grillen. So um vierzehn Uhr?“
Ich überlege.

„Ah, nee, das geht nicht.“
„Nicht? Wieso nicht?“
„Ich treffe mich in der Stadt. Mit Lars. Ja, ehm, ich soll da so eine Hausarbeit mit ihm überfliegen.“
„Achso. Naja, dann haste wohl Pech gehabt.“
„Ja man, echt schade.“
Abends häng ich mich alleine vor den Rechner, werfe eine Platte von The Verve ein und schaue stundenlang alte Kinderserien auf YouTube.
Ich hatte gar nicht in Erinnerung, dass der Silversurfer so melancholisch war. Das macht ihn fast zu meinem neuen Lieblingsheld der Comciszene. Ich bin fasziniert von seiner zweifelhaften und alternativlosen Art, sich selbst zu erhalten, sein Volk, seine Liebe zu retten, indem er das Unheil, das über allem schwebt, immer wieder versucht so umzulenken, dass die Katastrophe ausbleibt.

Erinnert mich etwas an mich. Wie ich versuche, Dinge immer weiterzulenken, damit es im Leben weitergeht. Das Leben ist wie ein LKW, der ohne zu tanken einfach immer weiterfährt. Und wenn du zu lange schläfst, landest du im Graben.
Ich schlafe unruhig in dieser Nacht, stehe früh auf, bin etwas nervös, überlege, ob ich vielleicht nicht hingehen soll. „Wo soll das hinführen?“, sage ich vor mich hin, als ich mich rasiere,

Wenn wir soviel gemeinsam haben, dann wird es doch vielleicht langweilig, weil wir uns zu ähnlich sind. Vielleicht bin ich schon wieder zu aufgeregt, zu unnatürlich. Vielleicht will ich sie nur ins Bett kriegen und merke es nicht? Rastlos.
Meine Haare wollen nicht, wie ich will, stehen quer und schief. Ich wasche sie drei Mal und nach jedem Waschgang kommt es mir vor, als sie das Ergebnis noch weniger akzeptabler als davor. Ich setze mir meine Notfallmütze auf, das ist ja kein Kunstgriff, aber wenn sie mich nicht kennt, dann weiß sie auch nicht, dass ich die fast nie trage. Dass sie gar kein Teil von mir ist.

Kann man sich vor Fremden eigentlich komplett neu erfinden? Will man das überhaupt?
Als es halb drei wird, marschiere ich los, gehe schnell, etwas zu schnell, gerate leicht außer Atem und stehe dann dort, in der Gemüseabteilung. Fünf Minuten zu früh.
Ich kann doch nicht fünf Minuten in der Gemüseabteilung rumstehen, während alles an mir vorbei geht. Am Ende kommt noch ein Mitarbeiter und fragt mich, ob ich etwas vor habe.

Ich könnte zwar mit „Ja“ antworten, ihm vielleicht die Situation erklären, aber ich entscheide mich, dass es ihn auch gar nichts anginge. Fünf Minuten. Dann geh ich doch lieber noch einmal nachsehen, ob die Kokosmilch immer noch bei den Getränken eingeräumt ist. Ich würde sie eher zu den Asia-Koch-Ingredienzien stellen, vielleicht aber auch deswegen, weil ich sie nur benutze, wenn ich asiatisch koche.
Und tatsächlich, da steht sie, mitten zwischen dem Mangosaft und dem Kirschsaft. Eine Dose, hässlich rot, einen Euro, fünfzig Cent. Ganz schön teuer, zu teuer. Aber ich habe das auch nie mit anderen Märkten verglichen.
„Du solltest doch bei dem Gemüse stehen“, sagt eine Stimme neben mir.
Ich drehe mich. Sie ist es. Ich blicke auf mein Handy.

„Ja, aber du bist zu früh. Anderthab Minuten, genaugenommen, wir sagten um Drei beim Gemüsestand.“
„Naaaagut.“
Sie kneift mir in die Wange. Ich zucke.
„Und was machen wir jetzt Schönes?“
Wir gehen spazieren.
Sie zeigt mir ihre liebste Ecke in der Stadt. Sie ist außerhalb, eine Wiese mit Bäumen, die weit auseinanderstehen. Ohne Wasser in der Nähe. Lieblingsecken sind meist am Wasser oder an besonders sehenswerter Architektur.
„Wieso ist das hier deine Lieblingsstelle?“
„Weil es absolut keinen Sinn zu machen scheint, dass die Bäume soweit auseinander stehen. Schon fast menschlich.“
Das war sehr klug. Das sind die Momente, in denen mich Menschen tief beeindrucken. Wenn sie soetwas sagen. So einfach, so klar, so klug.
Ich fasse ihr an die Wange. Dann küsst sie mich.
Küssen kann schnell langweilig werden, wenn man nicht zueinander passt. Wenn da keine Linie ist, keine Zuneigung. Aber wie kann sie so schnell erzeugt werden?
Ich zähle nicht die Stunden.
„Das machst du öfter. Oder?“
„Was?“
„Männern deinen Hain zeigen“, ups… „also, mit den Bäumen?“
Sie richtet sich auf.
„Willst du jetzt die Stimmung zerstören?“
„Nein, nur eine Retourkutsche für gestern.“ Ich piekse ihr mit dem Zeigefinger in die Seite.
„Puh. Ich dachte schon.“
Dann steht sie auf.
„Du bist doch jetzt nicht etwa sauer? Oder? Das war doch nur ein Scherz?“
„Nein. Keine Sorge. Es ist echt schön mit dir. Aber ich muss jetzt nach Hause. Leider.“
„Vergiss deine Schuhe nicht, Cinderella. Sonst find ich dich.“
„Du findest mich doch bestimmt.“

Sie reicht mir die Hand, zieht. Ich stehe auf.
„So, dann werde ich auch mitgehen.“
„Bis zur großen Kreuzung.“
„Genau. Hm. Morgen ist Sonntag…“
„Ich weiß, darüber hab ich auch gerade nachgedacht.“
„Hmm. Und?“
„Da ist ein Gemüsestand, auf dem Wochenmarkt. So ein Biostand. Aber du musst früh aufstehen.“
„Was heißt früh?“
„Um neun solltest du dort sein.“
„Ah, ja gut. Ich mache mal eine Ausnahme. Weil du es bist.“
„Super.“

Auf dem Weg erzählt sie mir, dass sie bald nach Hamburg fährt, für eine Woche, eine Freundin, die dort studiert, würde sie dort wohnen lassen, weil sie ins Auslandssemester geht und die Zwischenmieterin erst später einzieht.
„Oh, das ist ja toll.“
„Magst du Hamburg?“
„Ja…“, sage ich, hoffe insgeheim, dass sie mich fragt.
„Schön…“, sagt sie und ich merke das Zögern. Sie wirkt in diesem Moment zerbrechlich, ein neuer Zug, den ich gerade erst entdecke. Und er verschwindet auch wieder.
„Naja, wenn es dir dort zu einsam wird, kannst du mich rufen, dann komm ich dich da besuchen.“
„Das ist ja lieb. Mal sehen. Wirklich.“
Dann trennen sich unsere Wege.
Es ist neun, halb zehn, als ich zuhause bin.
Mars, Anja und ein paar ihrer Freunde sind auch wieder da.
„War das Grillen gut?“
„Ja, danke man.“
„Und bei euch?“
„Ja, voll doof. Das mit Lars war nächste Woche. Dann saß ich alleine rum und bin spazieren gegangen.“
„Ohman, du Verpeiler. Dann hast du ja Glück, dass wir dir was mitgebracht haben.“
Bauchscheiben. Ich freue mich, ich bin etwas müde und habe den ganzen Tag nichts gegessen, wie mir gerade einfällt. Mein Kopf ist etwas schwer und voll mit Svenja.
Ich setze mich an den Tisch, beginne zu essen.
„Wir gehen nachher noch raus.“
„Kommst du mit?“
Raus. Hm. Ich sollte früh ins Bett. Ich muss ja um acht aufstehen.
„Hmmm.“
„Stell dich nicht so an. Wir haben extra Wodka und Saft gekauft.“
Es fällt mir schwer. Wenn ich an eine Frau denke, habe ich auch oft ein Motivationsproblem. In die Disco gehen heißt auch immer, zu checken, was so geht. Und wenn da wieder die ganzen Bauern von den Dörfern sind. Die Invasion der Barbaren.
Es kommt wieder stärker durch, meine Abneigung gegen einen Großteil der Bevölkerung. Vielleicht macht mich das Studium, diese Monokultur an Menschen um mich herum etwas garstig. Oft frage ich mich, ob das wirklich stimmt, dass es nur Minderwertigkeitskomplexe sind, die dazu führen, dass man andere nicht mag. Aber andersrum. Wenn Liebe keine Begründung braucht, wieso braucht es dann Hass? Hass ist es ja nicht mal, nur Abneigung. Keine Geringschätzung, eher der Wunsch, sich nicht zu berühren. Weil man sich nicht ergänzt. Es ist mühselig. Ich will es einfach nicht.

„Na gut, ich komme mit.“
„That's my boy“, sagt Anja und klopft mir auf die Schulter, während sie mir ein Glas Wodka mit Apfelsaft eingießt.
„Apfelsaft?“
„Ja, das ist ein polnischer Wodka. Probier erstmal.“
Es passt.
Es kommen noch mehr Freunde vorbei, der Abend wird red- und trinkseelig, als wir gegen ein Uhr das Haus verlassen, merke ich bereits, wie schwer es mir fällt, Sätze im ersten Anlauf zu formulieren.
Reflektionsmöglichkeiten: Null.

Die Nacht verschwimmt zwischen Menschen, Lichtern, Bier und Musik. Schlafe ein.
Versatzstückhafte Dias, Gesprächsbrocken, die ich zu speichern versuche. Es wird warm, gemütlich, meine Gesichtshaut schläft zuerst ein. Dann folge ich.
„Hallo. Wach auch. Hörst du mich?“
Zurück in der Gegenwart.
„Ja?“
„Du schnarchst. Du schnaharchst!“
„Svenja?“, frage ich.
„Svenja?“ Ihr Ton wird sofort schnippig.
Ich drehe mich zu ihr rum.
„Scheiße, wer bist du denn?“
„Hallo? Was ist denn das für eine Begrüßung?“
„Was ist 'Du schnarchst!' denn für ein Morgengruß?“
„Na, wenn du schnarchst?“
„Ich schnarche nicht. Ich schnarche nie. Das sagen alle…“
„Alle was?“
„Alle… alle die mich schon mal… äh… schlafend erlebt haben.“
„War ja wieder klar, dass du so einer bist…“
„Bin ich nicht…“
„Ach, das erzählst du doch bestimmt jeder…“
„Wer bist du überhaupt?“
„Das wusstest du gestern noch genau!“
„Gestern?“
Gestern. Ich versuche mich zu erinnern. Ich erinnere mich nur an Svenja und den schönen Nachmittag.
Wie kleine Papierkügelchen, die jemand mit einem Tintenkillerröllchen nach mir schießt, kommen einzelne Bilder zurück.
Anja und der Wodka. Wir alle in der Küche. Ich voll. Die Party, voll. Ein Uhr, drei Uhr. Das Herrenklo. Ich, wie ich ein Bier bestelle. Ich spule, vor. Ich spule zurück.
Dann irgendwann ihr Gesicht.
„Ach, wir haben uns kurz unterhalten.“
„Kurz? Drei Stunden…“
„Echt?“
„Ja…“
„Und du bist?“
„Ach, vergiss es, ey.“
„Und haben wir…“
„Da wirst du wohl selber drauf kommen müssen. Das wird mir hier zu blöd. Ich gehe.“
Sie steht auf, zieht sich an. Scheiße. Sie hat eine sexy Figur. Was hab ich mir da wieder eingebrockt?

Nein. Ich muss einen klaren Kopf kriegen. Ich drehe mich zur Seite.
Auf dem Nachtschränkchen liegt ein aufgerissenes Kondomtütchen.
„Svenja“, sag ich.
„Wichser“, antwortet die schöne Fremde, die noch meine Hose in meine Richtung schleudert, dann die Tür von meinem Zimmer zuknallt, dann die Wohnungstür, dann die Haustür.
Gottseidank wacht niemand auf.

Ich schaue auf den Wecker.

12:30.

Scheiße. Ich habe sie verpasst.

In Rekordzeit renne ich unter die Dusche, wasche mich oberflächlich, ziehe das Erstbeste an, was mir in die Finger kommt und renne aus dem Haus, vergesse dabei fast, die Türen zu schließen.
Ich haste Richtung Marktplatz.

Fünf Minuten. Zehn Minuten. Meine Lunge quetscht verzweifelt Luft rein und raus, wie ich, wenn ich hoffe, noch etwas Zahnpasta aus meiner Tube zu kriegen, wenn mir auffällt, dass sie alle ist und ich einen dringenden Termin habe, zu dem Mundgeruch absolut nicht angemessen ist.
Scheiße.

Der Markt wird gerade abgebaut.

Ich laufe hin und her. Keine Chance. Ich bin auch absurd. Arrogant. Zu denken, sie könnte hier fast vier Stunden auf mich gewartet haben. Ich Idiot. Was mache ich mir überhaupt Gedanken? Ich hätte mit einer absolut scharfen Braut brunchen können. Und dann läuft mir so eine über den Weg, ich habe doch keinen Vertrag mit ihr und ich werfe die beste Chance seit langem weg? War es denn eine Chance oder nur ein ONS?
Man man man.
Plötzlich.

Da vorne am Café.

Da sitzt sie. Ich renne hin, merke garnicht, wie bescheuert ich aussehe, als ich keuchend und verwuschelt an ihrem Tisch stehe. Sie mich ansieht.
„Hab mir schon gedacht, dass du es nicht schaffst.“
„Oh man, Svenja, tut mir echt Leid.“
Sie hat wirklich auf mich gewartet. Gut, dass ich richtig reagiert habe.
„Ja, ist ja kein Ding.“
Wie peinlich. Ich mache mir hier einen Film und sie bleibt locker. Sie hat mich in der Hand.
Ich setze mich.
„Ähm…“
„Ähm, genau. Ich hab voll die Scheiße gebaut.“
Soll ich es ihr wirklich erzählen? Sollte am anfang unserer zarten Affäre eine Lüge stehen? Ist es eine Affäre?
Plötzlich taucht neben mir jemand auf.
Er fasst mir auf die Schulter. Ich drehe mich.
„Hallo?“
„Hi“, sagt er, „Tom“
„Torben“.
Er setzt sich zu uns, gibt Svenja einen Kuss auf die Wange.
Ich merke, wie sich ihr Gesicht verzieht.
„Torben, das ist mein Freund. Tom, das ist Torben, ein…“ Pause.
„Kommilitone“, sage ich.“
„Ah, studierst du auch Genderstudies.“
„Ähhh, hmm, ja.“
„Ich dachte das studieren nur Frauen“, sagt er herrisch und lacht wie ein Krokodil.
Toller Typ.
„Was hast du denn für Scheiße gebaut?“
„Ehm, ich hab, genau, ich hab mein Portemonnaie vergessen, zuhause. Ich geh besser nochmal los.“
„Oh wir sind aber nicht mehr lange hier“, sagt Tom.
„Das macht auch nichts.“
Svenja schweigt betreten.

Ich will aufstehen, bin fast weg, da ruft sie: „Torben!“
Torben. Will sie mir jetzt sagen, dass es ihr Leid tut. Das es alles nur ein Missverständnis war? Ich kann ihr nicht mal böse sein. Ich habe ja selber Mist gebaut.
„Torben!“
Ich drehe mich um.
„Ja… Svenja?“
„Du musst mir noch deine neue Handynummer geben. Wegen der Referatsgruppe nächste Woche.“
„Achso. Ja.“
Sie hält mir einen Zettel hin. Ich schreibe meine Nummer drauf. Ein Smiley. Und darunter: „Das nächste mal ohne den Gorilla.“
Sie schaut drauf. Versucht ihr Grinsen mit einem Biss auf die Unterlippe zu löschen.
„Ok“, sage ich.
„Wir sehen uns?“ fragt Tom.
Ich antworte nicht.
„Wir sehen uns?“ fragt Svenja.
„Wir werden sehen.“

Montag, 12. Juli 2010

Tag 1 - Torben wacht auf. Sie sagt, er schnarche. Aber wer ist Sie?

„Du schnarchst!“
Stell dir vor, du wachst morgens auf, bist in dir auf Ruhe gepolt. Die Decke und das Bett gehen mit dir eine perfekte Symbiose ein. Die Luft im Raum ist klar, sie steht nicht, ist nicht schweißgetränkt vom stickigen Muff einer schlafenden Schnapsleiche. Deine Fenster blieben in der Nacht weit offen. Sie sind mit Laken gedimmt, das tut den Augen gut. Der Tag könnte starten. Du drehst dich und deine Gesichtshaut fährt über den Arm einer anderen Person. Sie riecht gut, du glaubst, dass du den Geruch irgendwoher kennst. Es riecht nach Frau.Nach Sex und einem warmen Bad mit Buch. Du willst dich drehen. Du willst wissen: "Wer ist sie?" Dein Kopf bemüht eine Drehung, die Augen schieben sich nach oben. Doch ehe du sie ansehen kannst, ehe dein Kopf die adäquate Blickposition einnehmen konnte, sagt sie "Du schnarchst!"

Ich kann es kaum glauben. Unter anderen Umständen hätte ich mich über den schönen klaren, weiblichen Klang ihrer Stimme gelegt. Nicht belegt, kein störender Akzent, gut artikuliert, klar gebildete Phoneme. Aber!
Was bildet sie sich ein? Will sie mich abtörnen?

Ich erinnere mich.

Ich habe eine Affäre. Hab ich eine Affäre? Wenn ja, dann seit erst gestern.

Wir lernten uns durch Zufall kennen. Es begann wie in einem schlechten Sketch. Im Supermarkt. Sie lächelte mich an, weil ich vor dem Gemüseregal stand und Gedankenversunken ein Lied sang. Sie lachte, und obwohl sie mir bis zu dahin nicht auffiel, sprang sie mich in diesem Moment geradezu an. Und ich konnte ihren Blick nicht mehr vergessen, auch wenn ich erst erschrocken war rund floh...
Aber kennt man das nicht? Man sieht einen Menschen, den man zuvor noch nie gesehen hat und irgendwie brennt er sich ein, und wenn man kurz Zeit hat, wenn man kurz alleine ist, dann spielt sich das Bild auf die Mattscheibe des Kopfkinos und es läuft ein kurzer Werbetrailer. Der Trailer sagt: "Single? Lern mich kennen!" Dann kommt eine Meldung: "Die EU-Partnervermittlung warnt: Sei nicht feige im Supermarkt, du könntest es bereuen!" oder "Die EU-Partnervermittlung weiß: Guter Sex verringert die Chance auf Depressionen. Haben sie mal welchen!"

Als ich sie dann wieder traf pochte mein Herz. So, wie das manchmal mit Menschen ist, die man schon länger kennt, wo eigentlich alles cool ist und unkompliziert scheint, bis man plötzlich feststellt "Scheiße, sie ist ja schon sexy." oder "Scheiße, wir würden gut zusammen passen." Da wir uns aber nicht kennen und ich daher auch nichts zu verlieren habe, bleibt das Geräusch in meinen Ohren aus.
Ich erinnere mich an den Moment genau.

Wir gehen aneinander vorbei, es ist hellster Tag, in einer Seitenstraße auf dem Weg in die Fußgängerzone, ich sehe mich um, wir sind ganz alleine. Das ganz alleine sein ist nicht unbedingt unwichtig, in so intimen Momenten, in denen man fremde Menschen trifft, die man gerne kennenlernen möchte. Die ersten zarten Bande, durch den richtigen Satz in der richtigen Intonation mit der richtigen Mimik geflochten. Doch nur allzu oft scheut man sich, weil man denkt, alle in der Straße könnten das tiefe dumpfe Rasen des eigenen Herzens hören und würden sich sensationslustig zu diesem sozialen Verkehrsunfall hindrehen, der sich anbahnt. Es fangen die Katastrophenphantasien an, wahllos in der eigenen Phantasie Brandsätze zu legen. Ich stelle mir vor, wie ich winken möchte und in diesem Moment meine Nase anfängt zu laufen und eine Fahne ihr entweicht und ich aus Versehen feucht ausspreche und ihr auf die Schuhe spucke, während mein Deo versagt und sie nicht entscheiden kann, ob der Rotz, der in meinem Gesicht hängt, der Speichel, der ihre Schuhe versaut hat, oder der intensive Geruch am peinlichsten und abstoßendsten ist.

Während dann alle auf mich zeigen, lachen, mit den Kopf schütteln, Handyvideos von diesem Moment machen und bei Youtube reinstellen renne ich in den nächsten Saloon, um mich in der ganzen Stadt zu diskreditieren zu lassen - auf dass ich ein Nomadenleben führen muss und nie wieder irgendwie respektiert werde. Ich kann nicht mal im Boden versinken.
AberiIch habe Glück. Sie bleibt stehen, lächelt mich an. Ich kann gar nichts dafür, ich muss auch lächeln. Da wir alleine sind, klappt das gut und aus meinem Lächeln wird kein dämliches, ungeschicktes Grinsen.
"Hey", sagt sie und ich antworte mit "Hey".
Dann stellt sie fest: "Schade, du singst ja heute gar nicht."
"Aber ich könnte, wenn du möchtest."
"Jetzt?"
"Vielleicht bei einem Kaffee?"

Und manchmal ist es schon lächerlich, wie gut Dinge hinhauen, wenn man sich selber nicht im Weg steht. Ich halte ihr spontan, ohne zu überlegen, die Hand hin, ich weiß nicht, ob das aus dem Anflug an Selbstbewusstsein resultiert, der ich gerade durch die erfolgreiche Einladung ereilt. Sie schiebt ihre Hand auf meine und möchte wissen "So, gehen wir in dein Lieblingscafé, oder?".
Ich schlage vor, dass wir uns bei der nächsten Gelegenheit einen Coffee to Go holen und uns ins Grüne setzen. Sie findet die Idee "nicht schlecht". Der nächste Coffee to Go ist nur einen Steinwurf entfernt, es ist eine kleine Discount-Bäckerei mit Cappucchino-Automaten. Wir holen uns zwei Muffins, einen Blaubeer und einen Schoko, weil wir uns nicht entscheiden können. Immerhin entscheiden wir, dass wir teilen und so jeder was von beidem hat und es am Ende kein Herzbluten gibt.
"Man will ja meist das, was der andere hat, beim Essen."
"Nicht nur beim Essen", ergänzt sie mich. Sie wird Recht behalten.
So gehen wir mit zwei Muffins in einer kleinen Papiertüte und unseren Bechern Kaffee in den nächsten Park. "Auf die Wiese", befiehlt sie gleich und ehe ich weiß, wie mir geschieht, sitzen wir auf dem Boden.

Sie trägt dunkelrote Strümpfe, das ist ok, wie ich finde. Sie blitzen kurz in einem Spalt zwischen ihren Sneakern und der Jeans durch.
"So, du Singvogel. Machst du das öfter?"
"Was öfter?"
"Mädchen in den Park schleppen."
"Was denkst du denn?"
"Ich denke, nicht in den Park. Aber das Schleppen ist schon so dein Ding."
"Findest du?"
"Ja."
"Wieso? Ich meine, wie kommst du darauf?"
"Na, du wirkst halt so. So frech."
"Hmm. Ist aber nicht so."
"Das glaub ich dir nicht!"
"Wieso nicht?"
"Weil du es bestimmt zu jeder sagst, dass du das sonst nicht machst, und dann kommt sie sich besonders vor."
"Wenn ich jetzt sagen, würde, dass alle Mädchen so reagieren, wenn ich sage, dass ich nicht oft abschleppe, würdest du denken, dass ich es erst recht tue, weil viele Mädchen in der Situation sind.“ Ehrlichgesagt unterhalte ich mich nur öfters mit Mädchen darüber, gerade, weil ich es nicht tue."
"Und die glauben dir?"
"Wie gesagt, das glaubt mir keiner."
"Oh, soll ich dich jetzt in den Arm nehmen, Kleiner?"
"Nicht deswegen!"
Wir lachen. Kurve gekriegt. Das sind die Situationen, die man erst lernen muss. Souverän bleiben. Das "Kleiner" nicht persönlich nehmen, nicht patzig werden, sich nicht zu sehr verstricken. Selbst wenn es stimmt und es mit den Frauen nicht gut klappt. Ihnen etwas vorheulen ist auch nicht hilfreich. Vielleicht bilde ich mir auch nur ein, irgendeine Ahnung zu haben, weil sie gerade da sitzt und nicht ich neben ihr und sie meine Hand nahm, früher. Aber es gibt noch viel zu versauen. Darüber sollte ich besser nicht erst nachdenken.
"Wenn ich dir jetzt eine Band herbestellen dürfte, oder ein Orchester, das dir ein Lied von einer deiner Bands vorspielen dürfte, welche wäre das... oder welches Lied?"
Schachtelsatz, fast misslungen, jedoch freue ich mich, eine neue Version entdeckt zu haben, das ungeliebte Thema des Musikgeschmacks charmant anzureißen.
Sie lächelt. Puh.
"Willst du denn nicht mit mir alleine sein, dass du hier eine Band herbestellst?"
Ouch. Das hat gesessen, ein erstklassiger Konter, falscher Fuß, ganz klar.
"Doch, natürlich. Weißt du, ich bin so ein Filmekind, ich bin es gewohnt, wenn eine Situation schön ist, dass dann Musik ist, im Hintergrund. So wie in Filmen. Da hab ich mich nur gefragt, wie du das gerne vertonen würdest..."
Bitte! Keinen Ska. Keinen Reggae. Keinen deutschen Punkrock. Ich bete.
Komisch, dass ich manchmal innerlich anfange zu beten, obwohl ich an nichts glaube. Es ist, glaube ich, eine Geste, die ich nie ganz verstehen werde.
"Hm, schwer", sagt sie. Sie beginnt, Grashalme auszurupfen und um ihren Zeigefinger zu wickeln, während sie denkt. Es ist ein Moment, den ich gerne fotografieren würde. Oder verfilmen, in Sepia legen und mit Yann Tiersen untermalen. Dann würde ich mir vorkommen wie ein Nachwuchsfilmemacher mit dem Auge für schöne Momente, das Sepia und die computerbearbeiteten Streifen, die eine alte Filmrolle imitieren, sollen dem ganzen zusätzliche Wärme verleihen. Vor drei oder vier Jahren hätte ich damit vielleicht sogar einen Amateurfilmewettbewerb beherrschen können. Aber heute würde man mir sagen "Was bist du für ein Spätzünder? Klischee-Schleuder."
Dieses Bild wird in meinem Kopf bleiben und wie viele andere Ideen für Kunstarbeiten einfach umgespeichert vergessen werden.
"Kennst du Sigur Ros?"
Kennen wäre übertrieben. Ich kenne einige Mädchen, die ihn oder es hören, ich weiß, dass die CDs schöne Cover haben und alle, die ihn oder es – ich glaube, ich habe mal Wikipedia gelesen, es sei ein Isländer – hören, haben guten Geschmack.
"Ja, aber nur ein bisschen. Ist gut."
Die Musik beschrieben sie mir als schön, verträumt und ruhig.
"Passt gut, gute Auswahl."
Sie lächelt und scheint sich zu freuen, dass ich Sigur Ros kenne.
"Was würdest du nehmen?"
"Yann Tiersen", platze ich raus, "oder Craig Armstrong."
"Yann Tiersen", sagt sie und ihre Augen leuchten.
"Ja."
"Dann magst du auch..."
"Ja, hab ich auf DVD", falle ich wissend ins Wort.
"Schön!"

Sprechpause. Das sind die schwierigsten Momente. Wenn beide nicht wissen, wie es jetzt weiter gehen soll, überlegen, ob es etwas zu sagen gibt, was man sagen könnte, ohne die Stimmung zu zerstören, ohne von dem guten Weg abzukommen.
„Wo wir bei Musik sind. Was hast du denn da eigentlich gesungen, letztens, im Marktkauf.“
„Lass mich kurz überlegen… ah, ja, ich erinner mich. Kennst du Studio Braun?“
„Ja, natürlich.“
„Echt?“
„JA!“

Ich bin spontan begeistert und von Sympathie für einen kurzen Freefalltower-haften Emotionsschub auf Durchreise bis zur Wolke Sieben durchgereicht worden.
„Das war von Heinz Strunk. Computerfreak.“
„Echt? Is ja witzig.“
„Was magst du von ihnen?“
„Ich kenn nur so die alten Anrufnummern und die Bücher von Rocko Schamoni.“
„Ich fand Sternstunden der Bedeutungslosigkeit ja viel besser als Dorfpunks“, streue ich ein, um indirekt meine Fachmännerschaft in Sachen Rocko Schamoni durchblitzen zu lassen.
„Ja, stimmt schon. Und seine Musik, wie findest du die?“
Ich erinnere mich nur an das eine Musikvideo, diese Kitschpersiflage, die war ganz witzig.
„Jopp, der hat schon was, drauf, der Gute. Aber hast du das gesehen, als er bei 'Zimmer Frei!' erzählt, wie er mit seiner Tochter auf dem Tokio Hotel Konzert war? Das war witzig!“
„Echt? Das muss ich mir unbedingt angucken!“
Kurve genommen.
„Wo wohnst du eigentlich?“
„Gar nicht weit von hier, in ‘ner WG, will aber umziehen, die Mädels stressen mich. Das sind so Daddys‘ Girls, weißt du?“
„Ja.“
„Und wo wohnst du?“
„In der Südstadt“
„Oh, das ist aber eine kleine Ecke weg, wieso bist du dann hier in der Gegend zum Einkaufen?“
„Wegen dem Marktkauf. Ich mag den. Ich mag große Supermärkte. Und ich bewege mich, wenn ich dahinspaziere. Ich nenne es Supermarktflanieren.“
„Hehe. Du bist schon so ein etwas Eigener, oder?“
„Wie viele kennst du denn, die in der Gemüseabteilung Heinz-Strunk-Lieder singen?“
„Touché!“
„Lebst du alleine?“
Wenn Mädchen mich das fragen, frage ich mich immer, ob sie wissen wollen, ob es sich lohnt, dann mal mit zu mir zu gehen. Ob man ungestört wäre. Wie selbstständig, eigenständig oder unabhängig ich wohl bin. Oder nur aus Smalltalkgründen. „Mit zwei Leuten zusammen, einem Kumpel und seiner Freundin. Ist aber eine sehr schöne Wohnung. Musst du dir mal angucken kommen.“
„Ist das eine Einladung?“
„Natürlich ist das eine Einladung“
„Hmmm. Ich komme vielleicht drauf zurück.“
„Sie vergessen übrigens eine wichtige Sache!“
„Ich vergesse Rambo?“

Es macht kurz und heftig „Bam“ in mir. Sie hat aus einem Satz, den ich in eine ganz andere Richtung lenken wollte einen Volltreffer in den Winkel aus vierzig Metern Entfernung gemacht. Sie kennt absurde Filmzitate.
Ich nehme ein Stück Metallfolie, dass ich von einer Airwaves-Packung noch in meiner Hosentasche habe, drehe daraus einen Kreis, halte ihn ins Licht.
„Willst du mich heiraten, wenn ich groß bin?“
„Gerne, aber erst mal musst du mir sagen, was ich vergessen habe.“
„Das wir noch Muffins haben!“
„Ja, verdammt. Wie konnt ich das bloß vergessen?“
„Dafür hast du ja jetzt mich!“
„Schoko zuerst?“
„Ok!“

In der nächsten halben Stunde pflücken wir in rekordverdächtiger Andacht kleine Zipfel aus unseren Muffins, schieben sie ruhig in den Mund und lassen sie dort zergehen. Ich glaube, wir wollen einander nicht als gierig erscheinen oder verfressen, aber es kann auch einfach daran liegen, dass wir uns so gut unterhalten, dass Essen, und das passiert selten, komplett nebensächlich wird.
Wir reden über unsere Lieblingsserien, sie ist auch ein TV-geschädigtes Kind der frühen Achtziger. Spätestens, als wir uns über Clarence, den schielenden Löwen, unterhalten und den Ablauf eines üblichen Bud Spencer und Terence Hill Filmes abreißen, bin ich wirklich hingerissen.
„Weißt du, es gibt ja im Grunde nur eine Szene in Bud Spencer und Terence Hill Filmen. Die beiden sitzen in einer Bar an der Theke und essen Bohnen aus einer Pfanne. Eine Gruppe schmieriger Italiener kommt rein und liefert sich ein schnippisches Wortduell mit Terence Hill. Es fällt mir an dieser Stelle auf, dass ich die Namen Bud Spencer und Terence Hill immer und in jedem Zusammenhang komplett nenne und nie nur den Vornamen.“
„Hihi, ich auch“
„Jedenfalls nimmt einer der Italiener dann irgendwann einen Stuhl und haut ihn Bud Spencer gegen den Rücken. Der Stuhl zerspringt. Nach etwa zwei Minuten dreht sich Bud Spencer zu Terence Hill und fragt ihn: 'Sag mal, hat der mir gerade einen Stuhl auf den Rücken gehauen?' worauf Terence Hill mit 'Ja' antwortet. Dann fängt immer diese Italo-Klamotten-Mucke an. Dann werden sie so richtig verprügelt, mit Knall und Peitschgeräuschen, bis sie alle aus dem Fenster fliegen und die Kneipe abbruchreif ist. Dann fragt der Kellner, wer den Schaden bezahlt und die Szene ist vorbei.“
Sie lacht und freut sich und macht die typischsten Schlagbewegungen von Bud Spencer nach, welche fast alle mit offener, flacher Hand ausgeführt werden.

Wir reden noch lange, unterhalten uns darüber, was sie als Kind gerne werden wollten und in welche Stadt wir gerne ziehen würden.
„Sag mir mal, wie heißt du eigentlich?“
„Torben“, sage ich.
„Torben. Ich bin Svenja.“
Wir reichen uns demonstrativ die Hand, schütteln sie fest und nicken dabei, um der Geste Nachdruck zu verliehen.
„Es ist mir eine Freude, Svenja!“
„Ja, mir auch.“
Sie dreht sich mit ihrem Oberkörper zur Seite, ich folge ihrem Blick und wir stellen fest, wie tief die Sonne steht.
„Oh man, das ist bestimmt schon richtig spät.“
„So schnell geht das manchmal.“
„Das Leben ist viel zu kurz!“
„Kommt doch darauf an, was du daraus machst!“
„Und was machst du daraus?“
„Das hier!“
Sie lächelt, schon zum hundertsten Mal.
„Du bist mir bestimmt sehr böse, wenn ich jetzt los muss?“
„Ja. Aber ich kann dir verzeihen.“
Sie fummelt in ihrer Tasche, einer braunen Stoffhandtasche, holt ihr Handy raus, es ist ein altes Nokiamodell ohne Schnörkel. Sie sieht kurz zu mir, dann packt sie es wieder weg.
„Ach was. Anders. Ich gebe dir nicht meine Nummer. Du musst mir versprechen, dass wir uns morgen am Gemüsestand treffen. Im Marktkauf. Um Drei?“
Ich krame in meinem Terminkalender. Drei, Drei, Drei.
„Ja, das passt. Wunderbar.“
„Schön. Dann bis morgen? Torben?“
„Ja. Danke.“
„Dir auch. Wirklich.“
Sie steht auf, fasst mir an die Schulter und dann trennen sich unsere Wege. Sie geht in den Westen und ich Richtung Süden.