Samstag, 20. November 2010

Wenn ich Groß bin. Tag 6/2: Es ist himmelschreiend kompliziert und so einfach wie Rührei braten.

„Hast du sie noch alle stramm?“, wiederholt Svenja hastig.
Lass mich überlegen, will ich antworten und überlege stattdessen, komme zu dem Schluss, Ja, aber auch, dass siean diesem Zustand nicht unbeteiligt ist. Ich blicke zu Tom, der mich abwartend mustert, blicke zu Svenja, blicke zur Decke, fühle meine Wange, taste bis zur Schläfe, wo der Bluterguss sein muss.
„Weißt du…“, setze ich an, entscheide mich dann dafür, mir noch zwei drei Sekunden mehr Zeit zu schenken.

Tom tippt mit seiner Fuß abwartend, nervös, macht mich damit auch nervös, ich möchte knurren und ihn aus dem Fenster schubsen. Ich fühle mich wie in einem Halbfinale, 90. Minute, ich laufe auf das Tor zu, hinter mir Tom, er ist dicht an meiner Ferse, ich könnte mich fallen lassen und einen Elfmeter herausholen und es würde vermutlich von Svenja gepfiffen und dann bräuchte ich bloß verwandeln, ich hätte es in der Hand, ganz alleine ich.

Ich denke an meinen Vater, sehe ihn vor mir, wie er sich, als ich klein war vor meinen Augen rasierte, er benutzte dafür ein Rasiermesser. Dieses Rasiermesser würde ich gerne nehmen und Tom seinen blöden Ausdruck aus dem Gesicht schnitzen, ihn einfach wegschnitzen.
Lass ich mich fallen oder hol ich einer Verlängerung raus oder passe ich ihm den Ball zu und mache Fairplay oder versage… oder was?
Sie hat Recht, ich habe sie nicht alle stramm, aber vermutlich liegt es doch nicht an ihr sondern ganz allein an mir, ich sollte meine Mutter anrufen und sie fragen, ob ich schon immer so bescheuert war und sie würde mich fragen, wie ich denn jetzt darauf käme, also lass ich das wohl doch besser.
„Torben?“

„Ich bin gestolpert und gegen das Waschbecken geknallt…“, antworte ich kleinlaut und lasse meinen Kopf hängen, der Ball springt von meinem Fuß weg, ich blicke jetzt zu Tom um zu sehen, ob er klären kann.
„Tom?“, fragt Svenja kritisch, „stimmt das?“
„Ähm…“, sagt er, vermutlich hat er gehofft, er könnte mich mit einer Blutgrätsche massakrieren oder das Spiel durch meine Schwalbe ganz für sich entscheiden.
„Ja…“.
„Ja? Ihr seid doch echt bescheuert!“
„Es geht schon“, sage ich und streichel mir betroffen durchs Gesicht und zwinker ihm offensiv zu, vielleicht versteht sie das ja falsch, ich zwinker einfach, ein Impuls, ich liege am Boden und halte mir das Bein.
„Tom?“
„Ähm!“
„Was war das für ein Zwinkern? Was bedeutet das?“
Tom räuspert sich laut ohne Recht zu wissen, wie ihm gerade geschiet, er sieht mich nicht an, er sieht sie an, zuckt mit den Schultern, ist überfragt.
„Was macht er überhaupt hier, ich dachte wir seien verabredet?“ falle ich ins Wort.
„Genau, was machst du überhaupt hier?“
„Ich weiß nicht“, sagt er als würde er plötzlich zweifeln, ob er es nicht doch war, der mir das satte Ding verpasst hat, also greift er seine Jacke, geht zur Tür. „Vergiss nicht zu packen, Schatz!“.
Mir schwirrt „Arschloch“ durch den Kopf, ich tigere zum Sofa.
Das wäre geschafft.

Als die Tür sich schließt, bringt Svenja den Kuchen in die Küche, verteilt ihn auf zwei kleine Teller und bringt sie samt einem Beutel mit Eis an den Tisch, setzt den Kuchen ab, setzt sich neben mich und legt den Beutel an mein Gesicht.
„Fffff“, zische ich, „Halt still“, sagt sie und streichelt mir durch den Pony.
„Stimmt ja, ihr fliegt morgen nach Prag, ne?“. Svenja nickt.
„Schade. Es geht gerade alles so schnell, so schnell für mich. Als ob das alles an mir vorbei zieht. Und in solchen Momenten stolper ich gegen so ein beschissenes Waschbecken.“
„Gegen ein Waschbecken…“, wiederholt sie ungläubig.
Ich beteuere, dass es genau so gewesen ist, werfe aber zur Sicherheit ein, dass ich nicht denke, dass Tom und ich Freunde werden und räume ein, dass mir das scheißegal ist, dass ich daran kein Interesse habe, egal, wie lange die beiden zusammen sind.
„Das Päckchen“, sage ich, „wirst du das vorher noch öffnen?“
Sie antwortet, dass sie eigentlich darüber nachdachte, es erst nach der Reise zu öffnen und quetscht ein Lächeln hervor, von dem ich nicht weiß, was es bedeuter.
„Öffne es vorher.“
„Jetzt?“
„Wer weiß…“
„Na gut.“

Als ich klein war, hatten wir ein ausladendes Ledersofa im Wohnzimmer stehen, direkt auf den Fernseher gerichtet. Ich turnte immer darauf rum, während ich fernsah, doch wenn „Der kleine Vampir“ kam, erinnere ich mich, und der kleine Anton Bohnensack als Vampir verkleidet gemeinsam mit Rüdiger in die Vampirgruft ging und sein bloßer menschlicher Angstschweiß ihn jeden Moment als Fremdkörper hätte entlarven konnte, wurde es mir zu spannend und ich kauerte mich zur Sicherheit hinter dem Sofa zusammen, blickte hektisch hinter der Lederkante hervor und wartete, ob etwas Schlimmes passiert und kam erst hervor, wenn die Situation vorbei war.
Ich wünschte, das Sofa wäre jetzt hier.
Ich kann Svenja nicht ansehen, während sie das Paket bedächtig öffnet, die kleinen Präsente bergt wie eine Ärchologin, die etwas über die Beziehungen zweier alter Völker in Erfahrung bringen will, ein uraltes Rätsel lösen möchte, ich höre sie immer wieder kurz und mädchenhaft kicher, das Kichern macht mir Mut.
Sie legt die Musik ein, sofort kommt Paul Simon.

"The problem is all inside your head", she said to me

The answer is easy if you take it logically

I'd like to help you in your struggle to be free

There must be fifty ways to leave your lover”

Meine Gesichtshaut brennt, ich laufe knallrot an, ich möchte im Boden versinken, bitte, Gott, wo ist mein Ledersofa, schnell in Deckung, Svenja starrt aus dem Fenster, wippt mit dem Kopf zur Melodie.
„There must be fifty ways to leave your lover“, sagt sie. Sie lacht kurz.
“There must be fifty ways to leave your lover”, stimme ich zu.
“Tom ist nicht mein Lover. Er ist mein Freund.”
„Darum geht es doch gar nicht… Schatz“, presse ich hervor.
Ob ich mir das so einfach vorstelle, fragt sie, ich antworte, dass es im Grunde zugleich himmelschreiend kompliziert sei und so einfach wie Rührei braten. Es kommt darauf an, ob man Rührei wolle.
„Du bist Rührei?“
„Wenn du wüsstest, wie es sich gerade in mir anfühlt… Rührei. Ja.“ Jetzt lache ich zum ersten Mal.
„Du bist bescheuert.“
„Ich weiß. Also?“
Sie kommt auf mich zu, streichelt mir über den Oberarm, ich greife nach ihrer Wange, ziehe sie heran, küsse sie, küsse sie noch einmal. Denke, dass das reichen sollte, müsste, muss.
Reichen. Scheiße.
„Vielleicht wäre es besser gewesen, du hättest Die Zeit heilt alle Wunder von den Helden aufgenommen.“
„Von welchem Wunder redest du? Von eurem oder von unserem.“
„Ach Torben.“
„Hop on the bus, Gus

You don't need to discuss much

Just drop off the key, Lee

And get yourself free”, wiederhole ich den Liedtext.
“Mein Bus fährt morgen erst mal nach Prag, danach sehen wir weiter.”
„Das Ganze wird ein Nachspiel haben, mein Fräulein“, antworte ich herrisch. Dann küsst sie mich erneut.

Montag, 20. September 2010

Tag 6: Wenn ich da jetzt reingehe, dann bin ich ein Gefühlswesterwelle.

„Rat mal, wen ich vorhin kennen gelernt habe...“
Ich wiederhole den Satz in meinem Kopf. Rat mal. Ja, wen denn?
„Keine Ahnung. Den Weihnachtsmann?“
„Nein. Svenja.“

Svenja! Meine Lippen ziehen sich zusammen, als hätte ich auf ex ein Glas Frosch-Essigreiniger getrunken. Svenja. Meine Lider zappeln. Ich will mir die Aufgewühltheit nicht anmerken lassen. Was lernt sie einfach Svenja kennen? Hallo? Ich hatte mir überlegt, diese beiden Welten ordentlich voneinander getrennt zu halten.
„Nein! Ist ja nicht wahr! Wirklich? Wie kam es dazu? Nein! Erzähl doch!“
Anja zeigt mir den Vogel. „Bist du noch ganz frisch? Was ist denn mit dir plötzlich los?“
„Hä?“
„Hä?“
„Häää?`“
„Torben? Komm mal gerade klar?“
„W...www...wie hast du die denn kennen gelernt? Erzähl mal!“
Ich lehne mich gegen die Wand und lasse mich langsam zu Boden sinken. Anja kniet sich daneben.
„Tiger. Ich wollte mein Fahrrad abholen und als ich es gerade aufschließe kommt sie mit ihrem Typen um die Ecke gebogen und sieht mich an. Natürlich war sie perplex, weil sie ja vor ihrem Typen nicht erklären konnte, wieso sie dachte, dass das nicht mein Fahrrad sei.“
„Ach! Und dann?“

„Dann bleibt sie stehen und starrt mich an, ihr Typ ist sofort total verwirrt und grunzt so ein bisschen fragend herum. Plötzlich fragt sie mich, ob dass mein Fahrrad sei und ich das für meinen Freund abhole, der das da besoffen hat stehen lassen.“
„Du hast was gesagt? Spinnst du völlig? Hast du sie noch alle?“
„Haha, nein, das hab ich nicht gesagt. Ich habe gesagt, dass es mein Fahrrad ist und ich es einem Freund borgte, der es besoffen dort hat stehen lassen. Dann haben die beiden genickt und ihr Typ ist in das Haus gegangen. Sie blieb stehen und fragte mich, ob ich dich kennen würde. Nun ja, ich habe sie nicht angelogen. Und du, Torben, die ist nett. Echt. Und hübsch. Diese Augen...“
„Ja, ich weiß...“, seufze ich und starre zur Seite, „... was hat sie denn sonst noch gesagt?“
„Nicht viel. Kram halt. Ich soll dich grüßen. Dann ist sie hoch gegangen. Zum ihrem Macker.“

Zu ihrem Macker. Scheiße. Und Anja mag sie auch. Das passt mir gar nicht. Svenja. Ich sehe sie gerade vor mir und spüre, dass ich zu ihr will, am liebsten sofort. Zu ihr. Ihren Scheißmacker würde ich aus dem Fenster werfen und es würde mir wahrscheinlich sogar reichen, neben ihr zu sitzen. Ich bin verliebt. Scheiße. Zumindest ist klar, dass ich nicht in Martha verliebt bin. Und wenn Martha sich jetzt in mich verliebt hat? Klar, ist bei mir und Svenja ja nicht anders gelaufen. Ich bin total bescheuert. Warum passiert mir so etwas?

„Was soll ich jetzt tun, Anja?“
Ich sehe ihr in die Augen und sie scheint sofort zu merken, was in mir vor geht. Ich zeige auf die Küche und zucke mit den Schultern.
„Ich bin ein Idiot und du solltest mir in den Arsch treten. Du solltest mich da jetzt rein schicken und mir sagen, dass man so mit Menschen nicht umgeht und dass ich erwachsen werden soll. Und dann werde ich dir antworten, dass ich einen Verstand habe und dass es da dieses Gefühl gibt, das mich wie ein Polizeikommando immer wieder aus dem sicheren klugen Leben heraus treibt und mich nackt vor der Haustür an die Wand stellt und anbrüllt, auf mein Gefühl zu hören. Und.... und... hilf mir!“
„Du weißt schon, was Freundschaft ist, oder? Jungchen?“ Ich stutze. „Pass auf. Ich sehe dir in die Augen und ich kenne dich lange genug, um zu wissen, dass du ein Chaot bist und kein Lügner. Martha mag ich, und wir sind gut bekannt. Aber wir zwei hier, wir sind Freunde. Du kennst den Unterschied. Und der Typ. Der Typ. Das wird schwer. Das hab ich gleich gesehen. Den hat sie gerne. Und er sie auch. Nicht dass du am Ende...“

„Und was bringt mir die Küche, wenn ich bei ein Mal „Svenja“ auf dem Boden sitze und grüble? Ist doch nicht richtig. Wenn ich da jetzt reingehe, dann bin ich ein elender Opportunist. Ein Gefühlswesterwelle.“
„Hast du mal Martha gefragt, ob sie dich sofort heiraten will? Ihr hattet Sex und einen schönen Tag. Manchmal bist du aber auf deine verschrobene Art ein Spießer.“
„Komm! Du bist doch selbst die letzte Spießerin.“
Wir lachen. „Wenn du einen Tipp willst, dann geh da jetzt rein. Und ich komme mit. Dann bin ich die Mittäterin. Dann machen wir uns einen schönen Abend und du nimmst dich nicht so ernst sondern spielst das mal gut runter. Und ihr bleibt cool miteinander. Aber lass deine Finger von deiner dicken Hollywood-Nummer. Lass es eine lockere Affäre sein. Und sei ehrlich. Damit können alle leben. Und wenn nicht, wird sie es dir sagen und dir einen Laufpass geben. Morgen kannst du dann immer noch deine Svenja erobern.“

Ich seufze schon wieder. Ich sollte mich langsam für meine Seufzer bezahlen lassen. Ich stehe auf und Anja zieht sich an meinem Arm ebenfalls hoch. Wir nicken uns zu, sie ahmt meine Seufzer nach und lächelt.
„Und kein Wort zu Mars.“
„Never ever!“
„Gut!“
Wir gehen in die Küche, wo bereits drei gefüllte Weingläser auf dem Tisch stehen. Wir nehmen einen kräftigen Schluck.
„Wer ist eigentlich Svenja?“, fragt Martha, als sie sich zu uns um dreht. Anja verschluckt sich und kriegt einen Hustenanfall.
„Eine Lady, mit der ich nicht zusammengekommen bin, weil sie einen Freund hat.“
„Und wenn sie keinen Freund hätte... wärst du dann mit ihr zusammen?“
„Wahrscheinlich.“
„Und wie soll ich das finden?“
„Keine Ahnung, wie du das finden sollst. Ich habe meine Gedankenkontrollkappe vergessen.“

Martha kommt auf mich zu und haut mir auf den Hintern.
„Locker bleiben.“ Locker bleiben. Ich versuche es und zwinker ihr zu, während ich in Gedanken Pläne schmiede, wie ich Svenja erobern werde. Locker bleiben. Das klingt für mich wie ein Freifahrtschein. Oder nicht?
In einer ruhigen Minute schreib ich meiner Lady aus der anderen Stadthälfte eine SMS, in der ich sie um eine Audienz bitte. Währen dessen verbringen wir einen kurzweiligen Abend, wir essen und trinken und gehen aus. Der Club vertreibt alle Sorgen, wir tanzen eng und ich fühle mich breit genug, um auf zwei Stühlen zu sitzen. Breit genug, um Martha und Svenja in meinem Leben unter zu bringen. Ich wähne Anja an meiner Seite. Das wird die Sache für mich einfacher machen. Viel einfacher. Ich fürchte mich bloß vor Mars Reaktion. Er ist ein korrekter Mensch, gewissenhaft, moralisch einwandfrei. Ich glaube oft, dass Anja mit ihm zusammen ist, damit er ein bisschen Struktur in ihr Leben bringt. Ich glaube, viele Frauen wünschen sich das. So wie ich wahrscheinlich eine Frau brauchen könnte, die Struktur in mein Leben bringt. Ein Fulltime-Job. Immerhin habe ich meine WG.

Am nächsten Vormittag lege ich eine kleine Bastelstunde ein. Ich schließe die Tür ab. Ich war jetzt fast einen halben Tag am Stück sehr rational. Im Krieg gibt es keinen Platz für rationale Entscheidungen. Ich binde mir mein altes Karate-Kid-Tuch um die Stirn und grabbel in meiner alten Restekiste nach einer noch älteren Mix-Kassette, schütte das ganze verdammte Ding aus, bis ich eine finde. Ich bemale sie mit Modellbau-Stiften, beklebe die Tape-Hülle mit markigen Liebesbotschaften, die ich aus den herumliegenden Gratis-Magazinen zusammen caste.
Dann spiele ich 20 Mal „50 Ways to leave your lover“ auf das Band, bis es vor Botschaft beinahe reißt. Ich schnappe aus der Schublade ein Duplo und binde aus dem Wickelpapier einen Ring, ich reiße eine freie Seite aus meinem alten „Meine Schulfreunde“-Buch und fülle es in Krakelschrift mit den aktuellen Informationen von mir aus. Was wünsche ich ihr für die Zukunft? „Ein langes und erfülltes Jahr mit mir“
Ein alter Ebay-Karton wird mit weiteren Magazinfetzen beklebt, mit altem Geschenkpapier ausstaffiert und dient als Schmuckkiste für meine Kriegskiste, wie ich sie taufe. Der kleine Plastik-Elefant, ein Button, eines meiner Lieblingsbücher und ein Spritzer Eau de Toilette. Den Spritzer bereue ich sofort, aber daran lässt sich auch nichts mehr ändern. Man muss auch mal da hingehen wo es weh tut, für die Liebe. Ich nicke.

In der Stadt, ich besorge noch „Benny und Joon“ auf DVD, einen Mini-Flasche Wein und zwei Plastikgläser, zwei Blaubeermuffins, lege alles in die Kriegskiste, verklebe sie und stehe um 15 Uhr vor ihrer Tür.
Brrrrt macht der Buzzer. Schnell renne ich dir Treppe hoch, bin so euphorisch, dass ich aufpassen muss, ihr vor Vorfreude meiner kleine Kiste nicht ins Gesicht zu werfen und renne ihrem Typen in die Arme.
„Was hast du es denn so eilig?“, bellt er mich an.
„Ich habe einen hyperaktiven Kreislauf, Mister“, bell ich zurück. „Schilddrüsenüberfunktion.“
Ich will ihn am liebsten gegen die nächste Wand klatschen. Was ist diese Kotkerbe überhaupt hier? Warum hat sie den bestellt, wenn ich sage, dass ich komme? Ich würde am liebsten mein Paket in den nächsten Mülleimer werfen.
Nein Nein Nein.

Durch atmen. Es ist Krieg. Ich muss cool bleiben. Ich grinse den Pinkel an. Svenja kommt aus der Küche und wirkt unglücklich. Sie verzieht den Mund, ich nicke.
„Ich habe dir was mitgebracht...“, sage ich, ohne ihrem Freund eines weiteren Blickes zu würdigen... „für die Hilfe beim Referat!“
„Ach, du bist doch verrückt“, sagte sie und ich merke, wie sie sich zusammen reißt, um nicht vor Freude zu platzen.
Sehr gut. Dann dreh ich mich doch zu ihm, lächle ihn an und denke „Du bist am Arsch, du Penner.“
„Das ist ja schon die zweite Überraschung, heute. Du hast ja 'nen richtigen Lauf, Schatz.“
Ich drehe mich zu ihm. Schatz. Du Penner.
„Aha?“
„Ja, ich hab sie heute auf nen Kurztrip nach Prag eingeladen.“
„Ach wie hübsch.“
Arschgesicht. Du kannst dir Prag in deinen Tuckenjeans-Arsch schieben.
„Ja, ich bin ein echtes Glückskind...“, nuschelt sie und lacht verlegen.
„Wann fahrt ihr denn?“
„Morgen!“, knallt er wie eine kleine Wasserpistole vor meine Stirn.
Svenja erklärt, dass sie kurz Kuchen holen möchte, so wie sie es in der Rück-SMS versprochen hatte. Meine Hoffnung, dass ihr Wackeldackel das Weite sucht, bleibt unerfüllt. Wir sind alleine in der Wohnung.
Zögerlich entwickelt sich zwischen uns ein Gespräch, er versucht immer wieder, herauszufischen, was ich über Svenja denke. Ganz so, als würde er riechen, dass ich so meine Absichten verfolgen. Ich bemühe mich, so wage und platonisch wie möglich zu klingen und zwischendurch erwische ich mich dabei, wie ich einzelne seiner Sätze und Anekdoten sympathisch finde. Der Köter will mich aufweichen, mich mürbe machen.
Ich flüchte auf die Toilette. Dort sitze ich dann und lese immer wieder die wenigen SMS, die wir bis jetzt ausgetauscht haben und hoffe, meine Moral dadurch zu stärken. Fünf Minuten vergehen, zehn. Er klopft an die Tür und fragt, ob alles okay sei. Ich schrecke schräg nach oben und knalle mit dem Gesicht gegen die Kante vom Waschbecken.
„Scheiße!!!“
„Was ist passiert?“, brüllt er von der anderen Seite.
„Scheiße!“, brüll ich zurück, „wer baut so enge Badezimmer?“
Ich blicke in den Spiegel. Kacke. Ein Veilchen. Als ich die Tür auf schließe empfängt mich sofort sein dreckiges Lachen.
„Ach du liebe... was hast du denn da veranstaltet?“
„Ich bin beim Aufstehen mit dem Gesicht gegen das Waschbecken geknallt.“
„Wie doof kann man eigentlich sein?“
„Wie? Doof? Was macht ihr da?“, hallt es aus dem Flur. Svenja kommt mit dem Kuchen rein, sieht mich an, sieht ihren Freund an, lässt den Kuchen fallen.
„Hast du sie noch alle stramm?"

Sonntag, 12. September 2010

Tag 5/4: „Warum trägt das Tier ein Halstuch? Ist der ein schwuler Cowboy, oder was?“

Ihr Fuß gleitet an meinem Bein hoch. Es fühlt sich kribbelig an, sie grinst weiter wie eine neckische Spielkatze aus einem sechziger Jahre Film. Mit oder ohne rotem Halsband, ganz egal, ihr Fuß wandert zu meinem knie, Anja fummelt sich in ihrem Haar herum während sie auf Gesichts-Standby überlegt, wie sie mich jetzt dazu überreden kann, nicht zu Svenja zu wollen.
„Ist doch auch nicht schlecht“, sagt sie plötzlich, „wenn man das mal so überlegt...“.
Marthas Fuß liegt auf meinem Knie als wir beide wie gefesselt und mit offenem Mund zu ihrer herüber blicken.
„Äh?“
„Ja, also wenn ich das Fahrrad hole und Mars nicht da ist...“
„Ääähh?“
Martha tritt mich, Anja will mich auch treten und bemerkt Marthas Bein, die sofort zusammen
zuckt.

„EY! Was kann ich dafür, wenn er es nicht schnallt?“, boxt sie Anja an.
Ich lehne mich zurück und weiß nicht, ob ich mich über die kurze Ablenkung freuen soll oder lieber das Minizeitfenster nutze, um darüber Klarheit zu beschaffen, was ich denn jetzt machen werde.
Svenja, Martha.
Wenn man einen Delphin im Vorgartenplantschbecken hat, wieso sollte man dann noch zum Fischen aufs Dach? Wieso will ich eigentlich immer jagen? Männer sind so primitiv Vin Diesel nach einem Reaktorunglück. Ich stelle mir vor, wie ich mich beim Sex mit Martha in Hulk verwandle, ganz kurz vorm Orgasmus und das Bett dadurch zusammen kracht.
„Urgh!“
„Urgh? Alles klar bei dir, Junge?“
„Hatte schon mal einer die Vorstellung, mit einer Comicfigur Sex zu haben?“
„Ja, mit Wolverine. Das weißt du doch, Mensch“, pflaumt mich Anja an und beginnt zu schwärmen, „RRRRR, Hugh Jackman. Yum Yum Yum.“
„Hugh Jackman? Nein, nein. Viel lieber Gambit, wenn wir schon bei den Xmen sind. Dann wäre ich Rogue. Der könnte mir gerne meine Kartentricks zeigen. Ja, ja.“
Ich haue auf den Tisch. „So, meine Damen: Anja geht heute das Fahrrad abholen und was wir zwei Hübschen machen, das sehen wir dann.“
Beide glitzern mich wie Zuckerelfen an.
„Gut, und wenn ich das Fahrrad hole und ihr mit eurem „sehen wir dann“ fertig seid, dann könnt ihr was für uns alle kochen und so weiter.“

„Kochen! Ja! Ich mach die besten Pirogen der Welt!“, jauchzt Martha, sie klatscht so in die Hand wie ich mir das eigentlich bei einer alten polnische Mama vorstelle, die beim Kuchen backen vor Freude an ihrem eigenen Handwerk begeistert in ihre vollgemehlten Hände klatscht. Doch Martha ist mit keinem Millimeter eine alte polnische Mama. Ihr rutscht das Handtuch runter, sie stoppt es leider kurz vor den Brustwarzen und zieht es wieder hoch. Ich schaue sie fassungslos und erregt an.
„Die besten was?“, greift Anja vor-freudig dazwischen.
„Pirogen. Kartoffelklöße mit Füllung.“
„Geil. Oder? Torben?“
„Äh? Geil? Ja.... Schuldig.“
„Hä?“
„Ja, wir machen das dann.“

Ich erinnere mich an einen Satz von meinem Vater, als er mal von der Arbeit nach Hause kam, ich war auf einen meiner seltenen Heimatbesuche und saß mit meiner Mutter in der Küche, wir redeten über Frauen in meinem Alter.
„Fressen, Ficken, Schlafen. So ein Studentenleben hätte ich auch gerne noch mal, fauler Sack.“
Damals hab ich das noch nicht so ernst genommen, er haut ja oft solche Schoten raus. Eine meiner Freundinnen hatte einen Hund und sie band ihm immer ein rotes Halstuch um. Als wir dann samt Hund auf ein Wochenende zu meinen Eltern fuhren, war sein erster Kommentar „Warum trägt das Tier ein Halstuch? Ist der ein schwuler Cowboy, oder was?“
Und guck uns jetzt an. Den ganzen Tag: Saufen, Feiern, Fressen, Labern. Ein einziges pinkneonfarbenes Sodom und Gomorrha, nur dass wir nicht vor einem Racheengel mit einem brennenden Schwert stehen sondern bestenfalls vor einem Bildschirm mit Darth Vader und Lichtschwert und die einzige Strafe sind länger werdende Werbeblöcke und unsere allgemeine übersättigte Trägheit.
Trägheit?

„Ja, komm Anja, dann zieh dich an und mach dich nützlich!“
„Pass mal auf, die Pascha...“. Sie merkt, dass ich gar nicht zu höre sondern auf Martha starre und mir überlege, was ich tun kann, damit sie nochmal in die Hände klatscht und ihr Handtuch noch ein Mal rutscht.
Gegen all meine Trägheitsvorstellungen beginne ich, mit meinen Fingern auf den Tisch zu trippeln und „Alle kleinen Kätzchen fliegen....“ zu singen, worauf Martha sofort mit einem inbrünstigem „Tüüüüf!“ einsteigt.
Ich tripple weiter auf die Tischplatte ein. „Alle Zuckerelfen mit Handtüchern fliegöööööön...“ und Martha reißt die Arme hoch und lacht laut „HOOOOCH“ und in genau diesem Moment rutscht ihr das Handtuch ab, runter bis zum Bauch. Ehe Martha rot werden oder Anja sich über das Schauspiel wundern kann, bemerken sie mein dreckiges Sieger-grinsen, das zu unterdrücken ich nicht im Stande bin.
„Ich muss weg. Ich muss HIER WEG“, nuschelt Anja, als sie aufsteht und kopfschüttelnd die Küche verlässt.

Ihren Abgang quittiere ich gar nicht.
Ich aber habe gerade nur Augen für Martha und zeige auf ihr Handtuch. „Trägst du das noch, oder kann das weg?“ Sie knurrt wohlwollend.
Wir entschließen kurzer Hand, gemeinsam die Dusche aufzusuchen.
Angespannt wie ein Ringseil marschieren wir schnurstracks herüber, ich schmeiße die Tür zu, die laut knallt und schließe hastig ab, ehe sie mich an eben jene drückt und ihre Zunge in meinen Hals schiebt.
Ich stehe kurz vor der Explosion, meine Finger stehen unter Vollstrom, mein Penis schlägt aus wie ein ausschwenkender Holztransport, ich ziehe ihr das Handtuch herunter. Die Dusche erreichen wir nicht.
Eine Stunde lang tummeln wir uns auf dem Boden, fallen wir immer wieder übereinander her, rangeln, beißen, küssen wir, geben uns immer wieder alles wie zwei gierige Wölfe, die sich nach Monaten in einem verlassenen Wald treffen.
„Wenn du nur halb so gut kochst...“
„Warte es ab, Bursche.“

Eine weitere Stunde später verlassen wir dann halbwegs geduscht und leicht erschöpft das Schlachtfeld um uns in der Küche eine Art Wegzehrung zu gönnen.
Mein Vater ist ein weiser Mann. „Ficken und Fressen“
Innig und so, als wären wir nicht gerade erst aus einer jungfräulichen Bekanntschaft über Nacht in eine Fickaffäre geschlittert, gehen wir innig und pärchenhaft ekelig grinsend einkaufen. Martha gibt mir einen kleinen Exkurs in die polnische Küche. An allen möglichen Lebensmitteln bleiben wir stehen, sie sagt, was man daraus machen könnten und in welchen großartigen, nicht zu überbietenden Varianten ihre Verwandten daraus bereits ein Festmahl gezaubert haben. Sie tritt über die gefährliche Schwelle, sagt mehrmals, dass ich das mal probieren müsste, dass ich irgendwann vielleicht mal mitkommen muss und dass ich ihre polnische Verwandtschaft, deren Trink- und Singgelage sicher mögen würde. Ich sei ja offener als der typische Deutsche. Ich mag das nicht, diese Vorausplanunungsschwellen, über die man nach einem schönen Tag zu zweit so schnell tritt, eine fatale Ader, die ich selber auch immer wieder besitze und mich frage, ob sie unterbewusst nur deshalb passiert, um dem ganzen schönen Moment ein monumentales Fundament zu gießen. Anstatt einfach nur eine Sache zu genießen, wollen manche Menschen alles verprunken und vergolden.
Martha greift nach meiner Hand, als wir am Kühlregal stehen und das Hackfleisch für die Füllung aussuchen. Und ich höre keine Alarmglocken. Es stört mich nicht. Ich sehe mich um, ich versuche, in mich zu gehen und zu horchen, ob mein Herzschlag sich nach einer Erkrankung anhört. Aber da ist nichts.
Verlieben sich hier gerade zwei Menschen? Oder ist das wirklich das Schauspiel, dass zu einer gelungenen Affäre zweier Klassenclowns, Platzhirsche, Verbalpfauen dazu gehört?

Auf dem nach Hause weg scheint die Sonne, ich trage die Tasche, Martha scheint meine Sorgen und Gedanken zu tragen, ich spüre nämlich etwas, was ich selten spüre. Die Wärme der Sonnenstrahlen auf meiner Nase, den Wind im Haar, die Kleinigkeiten, die man immer überhört oder über spürt, wenn man grübelt. Sie lästert über Studienkolleginnen, ich muss immer wieder lachen, während mir der Sommer auf den Pelz scheint. Gerade sind wir eine Festung. Vor der Haustür frage ich mich dann wieder, ob die Festung nur aus Styropor besteht wie die Festungen, die sie für Filme wie Herr er Ringe oder Star Wars basteln. Ob das ein Geschenk ist, wie die kleinen Päckchen, die als Deko am Weihnachtsbaum meiner Eltern hängen und ich als Kind immer enttäuscht war, wenn ich mich nicht zurückhalten konnte und sie auspackte.
Ich sollte dieses Paket nicht auspacken, ich sollte mir den Moment auf die Nase scheinen lassen. Brrr. Ich fühle mich kitschig und greife Martha an den Po. Wir schließen auf, schubsen die Einkaufstasche in den Flur und verschwinden wieder im Bad, bis es irgendwann an der Tür klopft.
Wir liegen auf dem Boden, unsere Haare zerwühlt. Sie steht zuerst auf, zieht sich ihr T-shirt über und huscht durch den Türspalt nach draußen.
Durch das Holz höre ich es raunen.
„Na toll, wolltet ihr nicht kochen? Seid ihr bis jetzt da drin gewesen?“
Was ist mit Anja los?
Scheiße. Vielleicht hat sie wirklich Stress mit Mars? Und wir machen hier die ganze Zeit rum, ohne Rücksicht?
Ich ziehe mir schnell meine Sachen an, fahre mir durchs Haar und komme auch heraus.
„Torbeeeeeen!!! Marrrrtthaaa!! Ich habe Hungeeeeeeer!“

Martha nickt eifrig, schnappt sie den Einkauf und rennt in die Küche, aus der sie brüllt
„Captain Weitzel auf der Brücke, es kann los gehen.“
„Komme sofort“, rufe ich hinterher.
Anja steht vor mir.
Ich fasse ihr auf die Schulter.
„Anja, Schatz. Ist alles in Ordnung?“
„Klar, mit mir schon.“
„Wirklich? Wenn es was wegen Mars ist, kannst du es mir sagen.“
Ich nicke zur Küchentür.
„Das kann auch alles warten.“
Anja seufzt in einer Mischung auf Erleichterung und Amüsiertheit.
„Dachtest du wirklich, ich habe Stress mit Mars? Nein. Ich vermiss ihn nur ein bisschen.“
„Echt... da bin ich... froh, dass das so ist.“
„Aber du, Torben?“
„Ja?“
„Rat mal, wen ich vorhin kennen gelernt habe...“

Sonntag, 5. September 2010

Tag 5/3: Ich stehe vor ihr, Anja zögert, das Donnergrollen der Götter zieht näher, zieht direkt über unserem Haus her. Das muss er sein, ich weiß es.

Einen Atemzug lang ist es Ewigkeit. Ich stehe vor ihr, Anja zögert, das Donnergrollen der Götter zieht näher, zieht direkt über unserem Haus her. Das muss er sein, ich weiß es. Der Zorn.

Anja verzieht ihre Schnute, gleich wird sie ansetzen und mir erklären, was für ein blöder, unentschlossener, feiger, allen ernsthaften Dingen sich nicht aussetzen wollender Idiot ich bin. Meine Unterarme sind überzogen von Hautpartikelstalaktiten. Frösteln.

Sie tritt auf mich zu. Ihre Augen. Ihre Hand fährt aus. Ich zucke zusammen, ziehe mein Gesicht leicht zur Seite und gucke verkniffen. Es ist wie damals, wenn ich eine Backpfeife meiner Mutter in erwartungsvollen Empfang nehmen musste.
"Also... "
"Also...?"
„Du machst das schon, Torben. Du bist ja schon groß.“
Anja lächelt feixend und klopft mir zartherb auf die Schulter.
Mein Blick mimt das Schlussverkaufschaufenster eines Euro-Allzweck-Discounters.
„Keine harte Pause. Go for it, Tiger.“

Sie klapst auf meinen Po, ich stolper zu Martha in mein Zimmer, die es sich auf der Bettkante im Rahmen ihrer Möglichkeiten gemütlich gemacht hat.
Sie raubt mir die Angst vorm Schweigen. „Setz dich!“, bittet Sie mich imperativ und klopft auf die Bettkante, ihre Pupillen halten meine dabei fest wie die Hand des Vaters die Hand seiner Tochter, als sie das erste Mal gemeinsam auf den Jahrmarkt gehen.

Ich lächle und werde rot.
„Wo waren wir, Madame?“
„Da?“
Ihr Oberarm rutscht gegen meinen, stubst ihn an, um keinen Raum für Spekualtionen zu lassen. Ich greife meine Hand und lasse sie über ihn wandern. Sie lächelt ebenfalls, bloß ohne die Röte. Souveräne Lady. Oho. Als sie näher rutscht und ihre Hand über meine Schulter legt, stoppt alles.
„Du zitterst ja?“
Ich rutsche Millimeter weit zurück, nur Millimeter, um ihnen keinen Bedeutungshorizont zu geben.
„Du machst mich... .“
„Nicht schlimm!“

Martha. Ich würde ihr gerne erzählen, wie es sich gerade anfühlt. Nein. Ich würde gerne ihre Augen nehmen und in meine Kopffassung schrauben, damit sie durch meine Augen das Gefühlskino live und in Stereo sehen, erleben, verstehen kann. Sehe mich, wie ein Glasgefäß, gierig und sehnsüchtig und unsicher, ob es die M&Ms, zu deren Befüllung es vorgesehen war, auch aufnehmen kann, ohne zu brechen. Ob es nur um das Befüllen geht oder um das Miteinander von Glas und Schokonussspezialität.
„Reiß dich zusammen“, flüster ich mir ein. Nein, es macht keinen Sinn, ihr so etwas zu sagen. Wenn man so frisch ist, soll man sich nicht mit Sorgen und Schwächen plagen, da soll man die Zeit genießen, oder nicht? Ein ehrlicher Start ist ein bester? Gut, das wäre ja angesichts der Gesamtlage eh nicht mehr möglich. Mein Kopf rattert, mein Herz zattert.

„Ganz ruhig“, sagt sie und lacht. Sie ist gerade so widerlich perfekt. Anja sagt mir oft, meine Eskapaden scheiterten an meinen überzogenen Ansprüchen an die Romantik, der keine Frau, kein Mensch standhalten könnte. Martha aber ist jetzt gerade der Fels in der Romantikbucht. Caspar David Friedrich wäre der perfekte Mann für diese Momentaufnahme. Caspar, du Rocker.
Kuss. Mein Herz rast. Die Lippen suchen sich, dann die Finger, wie öffnen und schnell und lassen uns fallen. Dann lieben wir uns lange und der Schweiß macht uns gleich. Sie ist schön, ich fühle mich so. Wer ist irgendwer, was ist irgendwas? Gar nichts mehr. Gedankenleer liegen wir nebeneinander.
Morgens sticht die Sonne durch das ungeschützte Fenster, ich winde mich zu Seite, die Seite ist leer.
Zwei grübelnde Haarwühler später liegt immer noch keine Martha neben mir. Blick zur Decke.

So viel hatte ich doch gar nicht getrunken? Ich drehe mich zur Seite, richte mich auf. Ihre Kleidung liegt auf dem Boden... gut. Ich schnappe mir eine Jeans und ein Shirt und wandere in die Küche, in der Anja mich mit breitestem Flutlichtgrinsen empfängt.
„Na Champ? War es noch gut?“
„Mhm“, raune ich und gucke in den Kühlschrank.
„Jetzt lass aber mal die Milchkuh auf der Wiese. Alles gut?“
„Ich gucke gerade im Kühlschrank, ob Martha da ist. In meinem Zimmer ist sie jedenfalls nicht.“
„Die ist duschen, du Morgenmuffel-Casanova. Krieg ich Details? Na?“
„Wieso bist du überhaupt schon wach? Bist du nicht ein bisschen zu neugierig für diese Uhrzeit?“
„Es ist elf?“
„Elf?“
„WAR ES GUUUT?“

Ich nicke und sie bohrt mit Blicken nach, bis ihr Stirnfalte pulsiert.
„Atme durch, meine Güte. Es war gut, mit … Martha.“
"Schön soweit. Und du machst dir gestern noch Sorgen... . Wenn du willst, geh ich mir mein Fahrrad dann nachher selber abholen, wenn du mir sagst, wo es steht.“
„Das mach ich schon... sehr nett von dir, trotz alle dem.“
„Nee, du kannst den Tag doch anders nutzen. Mietz. Mietz.“
„Nee. Ich mach das schon. Ich... ich muss ja auch mal für meine Taten Verantwortung übernehmen.“
Anja lächelt kurz.
„Gut, gut. Verantwortung.“
„Verantwortung für was?“
Martha steht im Türrahmen und schaut uns an.
„Wenn man Kühe auf der Wiese hat, muss man sie selber melken und nicht immer die Anja rausschicken.“
„Mit Kühen meinst du Frauen?“
„Mit Kühen meine ich abstrakte Beispiele für etwas, was eigentlich keinen Sinn ergeben soll. Wir reden morgens gerne wirren Scheiß.“
„So So.“

Ehrlich zugegeben war mein zweiter Gedanke nach dem Wach werden, wieso ich denn diese Nacht mit Martha, die ich kaum kenne, geschlafen habe und nicht etwas mit Svenja, die mir auch heute Morgen wieder durch den Kopf spukt. Doch jetzt steht Martha vor mir und hat nichts als ein großes blaues Handtuch aus der Anja-Kollektion um den Körper und nasses Haar, der Pony fällt ihr frech ins Gesicht. Ich schnurre aus Versehen, sie bedankt sich grinsend dafür und drückt mir einen kurzen Kuss auf die Lippen, ehe sie sich zu ihrer Tasse gesellt, die man ihr wohl vor dem Duschgang übereignet hat.
„Hi hi, in dem Tuch siehst du so feucht aus wie ein Delphin!“ jauchzt Anja in ihrer halbschlafenen Kecke. Martha beginnt, sich von oben bis unten selbst zu mustern, während ich daran denke, dass es in den 90ern einen Comedy-Beitrag gab, in dem der junge Timmy eine erotische Beziehung zu Flipper hatte. Ich schaue ebenfalls an Martha runter und taufe mich selber kurz Timmy.

„Was machen wir denn heute schönes? Oder hast du etwas vor?“
„Torben muss nachher mein Fahrrad abholen. Aber ich würde es auch selber machen. Zumindest, wenn ihr was miteinander unternehmen wollt.“
Wie ein Tjostier fährt sie mir in die Planke. Das Stück. Beide sehen sie mich an wie eine DDR Ermittlungskommission. Das ist der kleine Zorn der Götter. Anja muss blinzeln, während sie versucht, mich nicht triumphierend auszulachen. Ich versuche, sie unter dem Küchentisch zu treten, streife aber an Marthas Bein ab, die sofort meinen Fuß beschlagnahmt und mit ihren Zehen streichelt. Sollen mich doch die Götter holen. Ich luge blitzschnell nach oben. Keine Götter. Hm.

Was mach ich denn nun? Kein Götterzorn, vielleicht ein Götterfunke? Kann mir einer sagen, was jetzt mal eine erwachsene, kluge Entscheidung wäre, die ich nicht bereue?
Ich schaue Martha fragend an. Sie grinst.

Dienstag, 31. August 2010

Tag 5/2: Erst verfange mich in einem halbseidenen Têtes-a-têtes mit Svenja und plötzlich bekoche ich eine ganz andere. Der Zorn der Götter naht.

Früher, wenn ich samstags draußen stand und fegen musste, war es meist windig. Oft war es sogar so windig, dass die Nachbarn am Ende tuschelten, es wäre auf dem Hof immer noch genau so staubig wie vorher. Ich hätte dem Chaos bloß meine Handschrift verpasst.

Irgendwann musste ich dann den Rasen mähen, anstatt zu fegen. Ich brauchte dafür länger als mein Vater, was die Nachbarn wegen dem Räsenmäherlärm noch mehr ärgerte, als mich fegen zu sehen. Vielleicht haben sie es dann bereut, dass sie deswegen nicht ihren Mund halten konnten.

Auch meine Eltern bekamen immer eine mittlere Krise, wenn sie sahen, wie ich dann mähte. „Ihr müsst aber nur das Ergebnis beurteilen, nicht die Art, wie ich mähe“, habe ich ein paar Mal versucht, sie zu beschwichtigen. Einestages sagte ich zu ihnen „Ich bin wie ein Parkinsonkranker, der eine Pistole führt. Egal wie sehr ich auch zitter, die Kugel fliegt trotzdem geradeaus.“

Daraufhin haben sie mit dem Kopf geschüttelt. Aber über die Art, wie ich mähte, haben sie nie wieder ein Wort verloren.
Die Woche ist schneller herum, als man drei Mal McDonalds sagen kann. Die Zeit rast, mein Hirn kommt nicht mehr hinterher. Semesterferien sind die Hölle für Leute mit regelmäßigem Lebensrhythmus.
Erst verfange mich in einem halbseidenen Têtes-a-têtes mit Svenja und plötzlich trage ich Einkaufsbeutel nach Hause, um eine ganz andere zu bekochen. Der Zorn der Götter ist mir sicher. Ich habe bloß noch keine Vorstellungen davon, wann er mich treffen wird.
„Übermorgen...“, seufzt Anja mich an aus heiterem Himmel an, als wir die Einkaufstüten nach Hause tragen.
„Übermorgen was?“
„Übermorgen muss ich wieder arbeiten gehen. Ich hasse das. Eigentlich hatte ich gehofft, wir lassen den Laden zu, bis der Boykott vorbei ist, weil eh keine Leute kommen, aber naja. Ich musste nur gerade daran denken. Irgendwie hab ich mich daran gewöhnt, so in den Tag zu leben, nachmittags einkaufen und sowas.“
„Verstehe ich. Na ja, ich habe wohl Glück, mein Chef ist noch bis nächste Woche Mittwoch im Urlaub, ich kann also weiter herum hampeln wie mir beliebt“, spreche ich aus und merke, dass es vielleicht unsensibel war.
„Aber weißt du, Schätzelein, ich komm dann einfach zum Kaffeetrinken zu euch rein und wenn du nichts zu tun hast, kannst du dich ja zu mir setzen und dann üben wir mal Stadt Land Fluss.“
„Oh, das ist lieb! Aber du, Torben?“
„Ja, Anja?“
„Ich habe mich gerade mal gefragt, wo denn mein Fahrrad überhaupt hingestellt hast! Ich brauch das dann am Freitag...“
Scheiße, ihr Fahrrad. Ihr Fahrrad steht bei... genau, bei Svenja. Ich habe es dort vergessen und würde es nicht so öffentlich zugeben. Aber insgeheim war seit dem Gespräch heute Morgen meine neue Hoffnung gewachsen, für ein paar Tage nicht in ihre Nähe zu müssen. Einfach, um erst einmal den Stand der Lage mit Martha auszuloten.

„Glaubst du, der Uniboykott bringt etwas?“
„Lenk' nicht an! Wo ist mein Fahrrad?“
„Das habe ich noch bei Svenja stehen“, nuschel ich kleinlaut, schaue auf den Boden, trete ein Steinchen weg und hoffe, dass ich eine von Niedlichkeit durchhauchte Demutsgeste lande, die sie ein wenig milde stimmt.
„Was? Ach darum hast du das gebraucht. Ach man, ey. Wieso hast du das wieder vergessen? Bei dieser Ollen auch noch! Man, man, man, ich sollte dir gar nichts mehr leihen. Du holst das da morgen sofort ab und dann kannst du die nächste Zeit aber gepflegt zu Fuß laufen.
„Ja, Mutti.“
„Ich gebe dir gleich "Ja, Mutti".“
Anja bleibt stehen, lässt ihren Einkaufsbeutel auf den Boden plumpsen, dreht sich zu mir, stiert mich ernst an und verzieht keine Miene.
„Ich mein das ernst, Torben. Du musst mal zuverlässiger werden. Wenn du in den Tag rein leben willst wie immer, okay, wenn du vergisst, deine Eltern anzurufen, geht mich das nichts an, wenn du deine Bude nicht aufräumst, dein Bier, aber bei mir hört der Spaß auf, ich muss mich auf Freunde wie dich auch mal verlassen können. Du musst mal langsam erwachsen werden.“
Ich nicke kleinlaut und greife ihren Beutel auf.
„Lass mal, ich trage den schon für dich, bis du dein Fahrrad wieder hast.“
Für Außenstehende mag ihre emotionale Eruption wirken wie das ausbrechen von langer Hand aufgestauter Kritik. Allerdings muss ich diese Vorwürfe in freundlicheres Papier gewickelt wöchentlich anhören.

Ich fürchte, sie ist sauer, weil Mars so unvermittelt weggefahren ist, anstatt zu warten, bis sie wieder arbeiten muss. Manchmal ist das komisch, selbst bei den perfekten Pärchen den Putz rieseln zu sehen. Aber ich bin mir sicher, dass in ihrem Fall nur die Tapete mal gewechselt werden muss und dass das Grundgerüst noch steht wie ein deutscher Betonbunker an der Normandie.
Zumindest hoffe ich es stark, denn es gibt mir Halt, die beiden zu haben. Vielleicht aber denke ich auch viel zu viel an mich selber und bekomme nicht mit, ob es allen um mich herum auch gut geht. Vielleicht liegt es daran, dass meine Eltern früher immer alles kontrolliert haben und stets der Meinung waren, sich sorgen zu müssen. Ist es nicht ein Stück Vertrauen, wenn man die Leute manchmal einfach leben lässt?
„Hier...“, sage ich, krame in meinem eigenen Beutel und zaubere zwei von diesen super sauren Kaugummis hervor, „weißt du noch? Die haben wir früher immer gegessen und gewettet, wer zuerst sein Gesicht verzieht.“
Wortlos, aber kopfschüttelnd grinsend nimmt Anja ihres an, wickelt es aus und hält es zwischen den Zähnen, nickt zu mir herüber um den Countdown zu zählen.

3 2 1

Wir kauen beide los und schon nach wenigen Sekunden überkommt mich der innere Zwang einer Ganzkörpermuskelkontraktion. Ich schüttle mich und versuche krampfhaft, dabei ernst zu gucken und nicht mein Gesicht zu verzerren. Aber ich verliere. Genau in diesem kommt ein Typ mit anthrazit-schwarzem C&A-Mantel und Lodenhut auf dem Kopf an mir vorbei, sieht mir ins Gesicht und vermutet, dass mein Blick ihm gilt.
„Was guckste' denn so scheiße?“, will er wissen.
„Ich habe meinen Hut verloren und da hast du bittere Erinnerungen in mir geweckt.“
Bilderbuchsituation, er überlegt gerade noch, ob meine Geschichte wahr ist, doch da bricht Anja in lautes Gelächter aus, lässt die Tasche auf den Boden fallen und haut sich in einer Hockbewegung auf die eigenen Schenkel, während ihr Kaugummi im hohen Bogen aus ihrem Mund geschleudert wird.
„Spinner“, sagt er nun noch ganz kurz und herzlos, schubst mich leicht zur Seite und marschiert mit doppelter Impulsgeschwindigkeit weiter.
Ich drehe mich zu Anja um ihr zu sagen, dass sie ja auch mal langsam erwachsen werden könnte, doch sie fängt sich und mich ab, kommt mit ihren aufgerissenen, tränenunterlaufenen Augen ganz nah an mich heran. Sie scheint mir etwas wichtiges sagen zu wollen. Sie fasst mir an die Schulter.
„BAAAAAAAHAHHHHAHHHAAHHHA, ICH HABE MEINEN HUT VERLOREN? BAAAAHAHHHHAHAHAHA“.
Den ganzen restlichen Weg nach Hause kriege ich kein Wort mehr raus, während sie ein ums andere mal von einem brüllenden Lachintervall heimgesucht wird, stehen bleibt und unter Tränen diesen Satz wiederholt.
Nachdem die Einkäufe, ausgepackt, einsortiert und die nötigen Kochutensilien für das, wie wir es nennen, Kürbismassaker zurecht gerückt sind, drückt mir Anja das Haustelefon in die Hand.
„Nummer ist gewählt, ruf sie an.“
„Wie jetzt, ruf sie an?“
„Ja, ruf sie an. Die freut sich, sag, wir wollen kochen und das es ja so nett war und dass du sie gern sehen willst.“
„That easy?“
„Tu nicht so schüchtern. That Easy! Wir haben eh schon über dich gesprochen, du rennst da keine verschlossenen Tore um.“
Ich rufe also bei Martha an und sie scheint kein wenig überrascht, mich zu hören und willigt schnell ein, was mir Sorgen bereitet, denn ich weiß nicht nur Gutes über Frauen zu berichten, die so unverfänglich einfach sind.
„Sie kommt in einer halben Stunde. Und jetzt erzähl mir mal, was ihr denn bitteschön über mich zu reden habt?“
„Ach, sie hat halt nur gefragt, was du so für einer bist und ob es denn ein großes Risiko wäre, sich mit dir einzulassen.“
„Mit mir sich einlassen? Ob nicht noch ein Wörtchen mitzusprechen, ich habe?“
„Ja, Meister Yoda, aber es war nur mal so tendenziell in den Wind gefragt, wie da so die Aktien stehen und die drohenden Kursverluste und so weiter. So macht ihr Männer das doch auch.“
„Ja, aber unsere Wortwahl ist anders.“
„DEINE Wortwahl ist anders. Das sagt sogar Mars“

„Jetzt fällt mir auch noch Mars in den Rücken? Gegen mich, die ganze Welt ist, die dunkle Seite der Macht stark jetzt, in der WG sie ist.“
„Die ganze Welt ist für dich, nur du kleiner Einzel-Jedi flüchtest bei jedem Anflug von Zuneigung gleich, weil man dich mal auf etwas festnageln könnte.“
„Papperlapapp, da diskutiere ich gar nicht drüber! Ich weiß schon, was gut für mich ist... aber ich bin trotzdem froh, dass ihr euch kümmert... meistens“
Einige Minuten später, als die ganze Wohnung allmählich nach Kürbiskartoffelauflauf riecht und ich fünf Mal zugeben musste, dass es wohl tatsächlich Gerichte mit Kürbissen gibt und dass Anja die beste Köchin der Welt ist, um mein Ohr zu retten, klingelt Martha und es herrscht bei uns religiöse Heiterkeit, so, als sei gerade das goldene Kalb eingetroffen.

Überschwänglich nehme ich ihr die Jacke ab und führe sie zu Tisch und wir reden alle hektisch und wild durcheinander, lachen unnatürlich laut und unserer aller Blicke gehen wild durch den Raum als würden wir uns ein Sichtlinienlichtschwertduell liefern. Es kommt alles auf, bloß keine Gemütlichkeit. Ich fühle mich ein wenig wie bei einem, so stelle ich es mir vor, Vorgespräch zu einer arrangierten indischen Hochzeit, nur haben wir keine Punkte auf der Stirn.
Punkte hat Martha auf der Bluse, genau genommen zwei, es sind die Knospen ihrer Brustwarzen, die hervorstehen und ganz dezent den Stoff anbohren, vermutlich, weil wir das Fenster während des Kochens auf Kipp gestellt hatten und es nicht mehr schlossen. Während die beiden Damen längst ihre erster Portion verputzt haben, rutsche ich nervös hin und her, damit es sich in meiner Hose nicht allzu unbequem sitzt und hoffe, dass mein kleines Problem nicht bemerkt wird und vor allem Martha nicht mitbekommt, dass ich ihr die ganze Zeit auf die Nippel schaue und an alles denke, nur nicht an Kürbisauflauf.
„Sag mal, musst du dringend auf Toilette?“, fragt mich Anja plötzlich und lächelt mich mit dämonischer Unschuld an. Sie wird doch hoffentlich nicht ahnen, was los ist? Aber dafür ist auch sie gerade zu verwirrt. Also nutze ich die günstige Gelegenheit und stehle mich geschwind an den beiden vorbei, eben so, dass sie keinen Blick auf meine Hose werfen können und verschwinde im Badezimmer.

Da steht das kleine Zirkuszelt und ich versuche mich redlich abzulenken, ich denke an Johann Lafer mit seinem Bibergrinsen und ich denke an Kürbisaufläufe und wieder an Johann Lafer, Kürbisse, dralle pralle runde Kürbisse mit her vorstehenden Nippeln. Martha. Martha ist verdammt noch mal heiß. Das Gegenteil von Abkühlung passiert, aus der Gartenlaube meiner Jeans wird ein Partyzelt. Ich öffne meine Hose und es passiert, was passieren muss. Ich nasche an Marthas Knospen und wir bepflanzen ihren Garten. Nach drei Minuten ist das Fest vorbei und mein Kopf wird klar, während ich mir die Hände und mein Gesicht wasche.
„Na?“, sagen die beiden, als ich zurückkehre. Sie haben sich derweil wohl langsam in ein Gespräch hinein finden können.
Ich setze mich, seufze kurz und in genau diesem Moment scheint Anja die Situation begriffen zu haben, wird kurz rot und zwinkert mir dann zu.
Dann steht sie auf und greift nach dem Telefon.
„So, ihr Hübschen, ich werde mal mit Mars telefonieren“ und verlässt die Szene.
Alleine mit Martha.

„So, Torben Sunev. Sunev! Was ist denn das genau für ein Name?“
„Das glaubst du mir eh nicht, wenn ich dir etwas dazu sage.“
„Doch, bestimmt“, sagt sie, etwa zu zahm für meinen Geschmack, also versuche ich gar nicht erst, zu diskutieren und antworte.
„Mein Vater kam nach Deutschland, als er noch sehr jung war, mit fünf oder sechs. Seine Eltern hat er dann sehr früh verloren und ich weiß nicht, wieso, er hat dann alles versucht, um seine Vergangenheit zu vergessen und auch uns gegenüber nie erzählt, was mit seinen Eltern war oder auch nicht und wo sie eigentlich her kamen. Für ihn war es immer nur wichtig, dass wir wissen, wir seien Deutsche und nichts anderes und das Sunev nur ein Name sei wie jeder andere und keine Bedeutung für uns haben soll. Na ja, er hat es auch gehasst, wenn Menschen ihn danach fragten, was das für ein Name ist und ihn loben wollten, dass er für einen Ausländer ja sehr fließend deutsch spräche und keinen Akzent habe.“
Martha starrt mich kurz an, scheinbar überfordert mit der Situation.
„Das ist echt mal krass. Eine ganz andere Erfahrung als ich mit meinem habe, der heißt Waldemar Weizel und ist ganz stolz, ein Pole zu sein und uns versucht er immer zu erklären, wie wichtig es sei, seine Spuren und seine Identität nicht zu verlieren. Aber ich sehe das irgendwie anders.“
Jetzt bin ich überrascht. „Ja, wie siehst du das denn?“
„Weißt du, ich finde, dass die Identität, die wir haben durch das bestimmt wird, was wir selber tun und denken und nicht durch unsere Eltern oder unsere Herkunft. Natürlich leisten die ihren Beitrag, aber mehr auch nicht. Man braucht schon Mut, ja, aber am Ende bist du selbst für dich verantwortlich und wenn man Geschwister hat, so wie ich, dann merkt man ja auch, dass trotz ähnlichen Bedingungen die Menschen an sich schon etwas ganz eigenes mitbringen, dass sie durch das Leben trägt, dass vielleicht beeinflusst, aber nicht gelenkt werden kann. Außer sie sind eben die Menschen, die sich vom Charakter sowieso lieber lenken lassen.“
Ich lächle.

„Ja, das sehe ich genauso. Wirklich. Krass, ich habe das so noch nie aus dem Mund eines anderen Menschen gehört. Ich kenne auch so diese Gedankenspiele, die man als Kind schon hat, was man mal machen will, wie man wohl werden wird, egal, was man zu diesem Zeitpunkt für Anlagen hat. Ich habe früher oft gesagt, dass ich, wenn ich groß bin...“. Ich stoppe.
„Wenn ich groß bin... ja?“
„Das erzähl ich dir ein anderes Mal, nicht jetzt, das ist glaub ich noch zu privat.“
„Versprichst du?“
„Eine Freundin hat mal zu mir gesagt, dass es keine Versprechen gibt, die man auch halten kann.“
„Siehst du das auch so?“
„Ich weiß nicht, aber ich gehe auf Nummer sicher. Wenn es einen passenden Zeitpunkt gibt, werde ich es dir sagen.“
Scheiße, jetzt sind wir von Hundert auf null abgestürzt.
Aber Martha fängt die Situation auf und beginnt, von ihrer Kindheit zu erzählen und es sind schöne Anekdoten aus Polen, eine niedliche Kindheit, ich bekomme den Eindruck sie ist ein herzlicher Mensch, ein warmer Mensch. Und ich fühle mich in ihrer Gegenwart wohl. Immer wieder lachen wir und es vergeht eine Stunde, ehe Anja in die Küche kommt.
„Na, ihr zwei, habt ihr Spaß?“, fragt sie und wir beide grinsen sie bloß an.
„Gut, gut. Darf ich Martha kurz entführen?“
„Aber nur kurz“ sage ich und während die beiden den Raum verlassen, beginne ich, den Tisch abzuräumen und etwas Schokolade bereitzustellen, öffne einen Wein.
Mein Handy vibriert.
„Hey, Torben. Dein Fahrrad? Svenja.“
„Ich hole es morgen ab“, schreibe ich zurück.
„Sehr schön, ich freue mich sehr auf dich. Tut mir Leid, wegen meinem Dawsons Creek Anfall gestern Nacht. Der Alkohol... bis morgen.“

Ich schlucke.
Anja kommt kurz an der Küche vorbei gehuscht, als sie mich so da stehen sieht.
„Alles okay, Torben? Es läuft sehr gut mit Martha, oder?“, feixt sie mich an.
„Das tut es, ja.“, bemühe ich mich, zu lächeln.
„Das ist schön, wirklich.“
„Sag mal, wärst du mir böse?“
„Böse? Weswegen böse?“
„Falls ich es vermassele?“
Sie schweigt kurz, während ich den Zorn der Götter grollen höre. Ist dies vielleicht der Untergang des Abendlandes?

Sonntag, 22. August 2010

Tag 5: So sitze ich dann alleine in der Küche und stochere auf zwei traurigen Scheiben Toastbrot herum

Vor mir liegt ein Haufen an Fragen. Das erinnert mich an meine Kindheit. Samstags habe ich es gehasst, aufzustehen, weil ich wusste, ich müsste den Hof fegen, das Laub oder einfach den Staub von einer ganzen Woche zusammenfegen.

„Damit die Leute nicht gucken“, hat meine Mutter dann gesagt. „Und wenn sie gucken, was dann?“, habe ich geantwortet, worauf sie mir schnippig mit „Werd’ mal nicht frech“ über den Mund fuhr, ich aber erst recht frech wurde.

Ich malte ihr aus, wie schön es doch wäre, wenn ich all das Laub eben nicht wegfegen würde und es sich mit dem Staub vermischte und dann der Wind käme und es vor die Häuser der ach so feinen Nachbarn wehte. „Die müssten dann alle vor ihrer eigenen Tür kehren“, sagte ich dann zu ihr „jetzt weißt du auch, woher der Ausdruck kommt.“

Meine Mutter führt ein spießiges Leben, weil sie es hasst, wenn die Leute etwas denken könnten. Dabei denkt sie selbst am meisten nach. Das wiederum habe ich von ihr geerbt.
Aber bin ich spießig?

Es ist jedenfalls nicht Samstag, ich bin auch kein Kind mehr, mein Elternhaus ist in weiter Ferne und anstelle von Staub und Laub liegen vor meiner Haustür nur Fragen. Vielleicht sollte ich sie zu Anja rüber fegen, damit sie mir damit helfen kann.

Ich fasse an meinen Kopf. Kein Kater. Komisch. Ich schlief nicht wie ein Stein, ich schlief nicht mal wie ein Wattebausch, das davon träumt, mit einem Stein auszugehen. Ich habe einfach ganz normal geschlafen. Das bereitet mir Sorgen, nicht gesundheitlich, eher emotional. Fang ich jetzt schon damit an, dass mir Dinge egal werden? Dann würde ich ja jetzt nicht darüber nachdenken. Bevor in meinem Kopf wieder eine Gilmore Girls Folge beginnt entschließe ich mich für das Richtige: Frühstück.

So sitze ich dann alleine in der Küche und stochere auf zwei traurigen Scheiben Toastbrot herum, während das Frühstücksfernsehen mir attraktive und gewagte Dekotips für den nahenden Spätsommer näherbringen möchte. Gewagte Dekotips. Was an bunten Kürbissen gewagt ist, frage ich mich glaube ich zurecht. Ich weiß garnicht, wieso wir Deutschen Kürbisse zum dekorieren benutzen, aber man nirgends Kürbisse zum Essen sieht, mit Ausnahme der Tütenkürbissuppe von Maggi und manchen Folgen vom perfekten Dinner. Ob die Tütensuppe allerdings wirklich nach Kürbis schmeckt, davon habe ich keine Ahnung, Vermutlich nicht. Und gewagt ist es wahrscheinlich, weil wir Lebensmittel zum dekorieren benutzen, die in anderen Ländern Kinder vor dem Hungertot bewahren könnten. Nächstes Jahr an Oster dann gewagte Dekotips mit Aidsmedikamenten und Trinkwasser.

Marcel Reich-Ranicki hat einmal im Fernsehen auf die Frage, was er zu den olympischen Spielen in China sagen möchte, geantwortet, dass zu viele Menschen über Dinge sprächen, von denen sie keine Ahnung hätten. Ich habe ihm da sofort grinsend Recht gegeben, doch jetzt gerade, wo ich hier so alleine vor dem traurigen Toast sitze, den nur noch eine ordentliche Scheibe Kinderwurst retten würde und mich selbst innerlich sprechen höre, glaube ich, wenn wir das so wirklich streng durchsetzten, dann müsste ich meinen Kopf zu Gunther von Hagen schicken, damit er ihn mit Plastinade füllt. Wenn du willst, dass etwas ordentlich getan wird, lass es jemanden tun, dem man alles zutraut. Und die beiden Werbeflächen der Kosmetikindustrie im Frühstücksfernsehen müssten sich einen neuen Job suchen.

Aber ich mag das Geschwätz über Boris Beckers neue Freundin und Johann Lafers Vollkornbrotüberraschung und wenn es mich interessiert, dann hat es eine Daseinsberechtigung. Oder etwa nicht?

„Denkst du wieder über Schwachsinn nach?“, höre ich Anja plötzlich sagen, als sie links an mir vorbei in Richtung Kühlschrank zieht und sich ein Mango-Lassi herauszaubert. Ich möchte zu gerne wissen, wie sie das wieder gemerkt hat, aber den Sieg gönne ich ihr nicht.

„Das würde ich nie tun. Ich träume nur davon, dass Johann Lafer mal morgens für uns das Frühstück machen könnte. So einen eigenen Johann Lafer, der wie der Dentagard-Biber grinsend den ganzen Tag für uns kocht. Das wäre doch super.“
„Aber wir haben doch Mars.“
„Aber Mars ist doch gestern zu seinen Eltern gefahren?“
„Ja, und er meinte, du hättest dich auch verabschieden können, aber du warst ja zwischendurch weg.“
„Ich habs verpeilt.“
„Du Verpeiler. Du bist die ganzen letzten Tage ein bisschen abwesend“, sagt sie und setzt sich zu mir an den Tisch. „Was ist denn überhaupt los, Schatz? Ich bilde mir ein, du wolltest mir da noch etwas groß und breit erklären, wegen gestern?“

Jetz hatte ich gerade mit Hilfe des Fernsehers meinen Fragehaufen beiseite geschafft, da wühlt sie ihn wieder auf. Nagut, dann wird sie auch beim Abtragen helfen.

„Aaaaaalso“, beginne ich und fange an, ihr die vertrackte Situation detailliert und minutiös darzulegen, merke, wie ich selber manchmal erneut ins Schwärmen gerate, mir an manchen Stellen selbst auf die Schulter klopfen könnte. Und es wird mir bewusst, wie verzwickt die Angelegenheit für mich ist. Svenja vermeidet wirklich immerzu, Tom mir gegenüber auch nur zu erwähnen.
„Hmmm... “, raunt Anja dann in meine Richtung, als ich ihr den Gesamtüberblick präsentiert habe. „Hmmm…?“, raune ich fragend zurück, „du bist die Frau, erkläre mir, was da Sache ist.“
„Jetzt weiß ich zumindest, wieso du der Martha abgesagt hast.“
„DAS ist das Erste, was dir dazu einfällt?“
„Klar, ich hab die beiden doch extra wegen dir eingeladen, du Schnösel. Was dachtest du denn, warum sie direkt so offen war?“
„Das hättest du mir auch mal vorher sagen können?“
„Du lässt dir doch nie etwas sagen!“
„PA! Also bitte? Ich leg dir hier die ganzen vergangenen Tage offen wie meine Brust und du fährst die Krallen aus und kratzt drüber anstatt mir zu sagen, ob die Verletzung tief geht oder ober das alles nur oberflächlich ist und ich mich unnötig sorge.“
„Was wirst du denn gleich so melodramatisch? So kenn ich dich ja garnicht! Ich fand das halt schade. Die würde gut zu dir passen, sie hat mir auch hinterher gesagt, dass sie dich mag. Aber naja. Und überhaupt, was glaubst du denn, wieso wir alle euer Geflirte ignoriert haben? Damit da mal was passiert!“
„Geflirte? Ich habe doch garnicht…!“
„Torben. Jetzt spiel hier mal nicht das kleine Schaf von der Wiese.“
„Man. Ich weiß auch nicht. Aber hier. Zurück zu Svenja. Ich mag sie. Wirklich. Irgendwie. Du musst mir mal helfen! Was soll ich tun?“

„Ganz ehrlich? Punkt eins. Ja, ich weiß, du bist im trotz deiner nervenzerhäckselnden Gedankenklauberei ein guter Mensch und wenn du sie wirklich magst, wenn das wirklich so gelaufen ist, wie du es mir schilderst, dann ist sie vermutlich auch ein guter Mensch. Punkt zwei. Wenn sie auch ein guter Mensch ist, dann ist Tom bestimmt kein schlechter Mensch. Das führt zu Punkt drei. Dann nämlich wird sie ihn sicher nicht leichtfertig verlassen. Selbst wenn sie dich mag, und es scheint mir schon so, als ob sie dich mag, stehen die Chancen beschissen. Beschissen, Torben. Nicht, weil mit dir irgendetwas nicht stimmen würde, sondern, weil man jemanden, mit dem man zusammen ist, nicht wegen einem noch so spannenden Menschen mal eben verlässt. Vielleicht ist sie ja verwirrt? Vielleicht hat sie das ja auch alles überrascht? Dich hat es ja auch überrumpelt.“
Ich überlege. Ich überlege wirklich hart. Zwei Minuten, fünf Minuten, immer wieder will ich zu einem Satz anlegen, breche aber erneut ab. Am liebsten würde ich mich auf den Boden schmeißen, mit beiden Händen auf die Fliesen trommeln und brüllen „Aber ich will!“.

Das hat vielleicht bei meiner Mutter früher funktioniert, damit die Leute nicht gucken. Aber der Welt ist es egal, ob die Leute gucken.
Ich seufze.

„Torben. Du weiß, dass ich dich liebe und dass ich dir das nicht sagen würde, wenn ich dächte, es gäbe auch eine andere Wahrheit.“
„Und du bist dir da sicher?“
Anja nickt und schiebt ihre Hand auf meine. Ich kneife die Augen kurz verbissen zu. Dann lächle ich sie an.
„Also Martha?“, sage ich.
„Ganz bestimmt“, antwortet sie.
„Ich habe dann für den Moment nur noch eine weitere Frage, die mir auf dem Herzen brennt, Anja. Und du musst bitte ehrlich mit mir sein.“
„Immer doch, Schatz. Was ist denn?“
„Was ist daran gewagt, mit Kürbissen zu dekorieren und warum werden die nirgendwo zum Essen verkauft?“
„Aaaaaaaah! Torben Sunev!!! Du bist… du bringst irgendwann nochmal alle in die Klapse!“
„Aber mal ehrlich, sag es mir.“ Ich bemühe einen unschuldigen, naiven Häschenblick.
„Kürbisse gibt es überall zu kaufen, du musst nur mal deine Augen aufmachen. Weißt du was? Wir gehen gleich mal in den Supermarkt und schauen, ob es welche gibt und dann gucken wir, was wir damit kochen.“
„Und dann lädst du Martha zu uns zum Essen ein?“
„Nein, das machst du mal schön selbst!“
„Oke!“
„That’s my boy.“

Sonntag, 15. August 2010

Tag 4/3: Einmal Svenja und zurück?

In meine Gedanken und Erwägungen verhaftet klebe ich in einer Bierpfütze fest, weiß nicht vor oder zurück, während mir mein Schweiß den glühenden Rücken runterläuft, weiterer fremder Schweiß von der Decke tropft, auf meine Stirn trifft, ich zusammenzucke und ihn wegwische.
Sie kommt auf mich zu. Schnurrstracks. Sie schaut mir in die Augen. Direkt. Dieses Stück.
Der ICE des vorzeitigen Romanzenabbruchs rast auf mich zu, während ich ratlos auf dem Gleis klebe. Sie will mich überrollen. Zu Ende bringen, was sie Samstag nicht geschafft hat.
Komm schon Baby, gibt mir den Rest. Schlag zu.
Ich muss grinsen.

„Hey!“
„Hey!“
„Hey. Ich habe deiner Freundin gesagt, dass ich kurz mit dir alleine reden will. Sie hat mich erst abwiegeln wollen, ich habe ihr aber dann erzählt, dass wir uns schon länger kennen und eine Ewigkeit nicht gesehen haben.“
„Okay?“
„Wegen Samstag…“
„Ja?“
„Tut mir Leid. Das mit dem Arschloch. Ja, du warst ja wirklich besoffen und darauf hab ich ja auch keine Rücksicht genommen. Und jetzt seh ich, du hast ne Freundin. Das ist Svenja?“
„Ja…“
„Weißt du, ich habe nen Freund und wenn ich daran denke, was ich da für eine Scheiße gebaut habe. Das ist echt Mist. Ich wollte das garnicht. Hm. Also, ich will dir nicht drohen, ich versprech dir, ich behalt das für mich. Das mit Samstag…“
„Aber?“
„Ich würde mir wünschen, dass du es mir auch nicht krumm nimmst und es auch für dich behälst. Weißt du, ich will keinen Stress mit meinem Freund. Du weiß ja, wie diese Stadt ist... Das ist ja auch für uns beide das Beste. “
Ich weiß es. Aber hey. Was tut sie hier? Wie absurd. Wie absolut undenkbar war das denn jetzt gerade? Klar war ich besoffen, aber ich sollte doch noch Herr meiner Taten sein? Sie nimmt die Schuld einfach auf sich, ohne mir etwas Verantwortung zu lassen. Ich glaube, sie hat einfach wirklich Angst um ihre Beziehung. Wenn die Beziehung beständig ist, wieso geht sie dann fremd?
Hmm.
„Kein Ding. Wirklich nicht. Für mich ist alles cool!“
„Wirklich?“
„Ja. Vergessen wir’s einfach. Shit happens.“
„Danke. Wenigstens ist nichts gelaufen. Machs gut, du!“

Was? Es ist garnichts gelaufen? Oh man.
Da geht sie hin. Weg. Mist. Ist wirklich NICHTS gelaufen, oder war das nur ein Spruch? Was ist passiert? Hab ich mir umsonst Sorgen gemacht? Ich bin ganz verwirrt. Wieso steh ich überhaupt hier? Svenja. Ja.

Ich schiebe mich durch die Menge nach draußen. Da sitzt sie auf der Mauer, ganz alleine mit der Nacht und nippt an ihrem Bier. Sie sieht friedlich aus, als wäre sie Teil der Nacht, als wäre sie ein Gemälde, dass ich jetzt nicht zerstören sollte. Aber ich bin so, ich muss an der Welt herummalen, herumschrauben. Menschen sind so. Ist die Liebe bloß Kunst, die an der Wand hängt und wir stundenlang davor sitzen und seufzen? Oder ist sie der Kuss, der befreiende Kuss nach einem heißen Tag, einer Gewitternacht im drohenden Morgen? Der Kuss, den wir dem Schicksal abnötigen wollen? Was für Gedanken.

„Na du?“, sage ich und setze mich zu ihr.
Sie hebt ihren Blick in Richtung Sterne und nippt an ihrem Bier.
Dann legt sie ihren Kopf an meine Schulter.
„Ist dein Gespräch beendet?“
„Ja, sonst wäre ich nicht hier.“
„War es denn so wichtig?“
„Ich finde, hmm, naja. Was ist schon wichtig?“
„Das kommt auf den an, der spricht.“
„Oder auf den, der fragt.“
„Oder so. Ja. Früher hatte ich Angst vor dem Erwachsenwerden. Alles zu wissen stellte ich mir schrecklich vor. So ernst und langweilig. Ich hatte Angst, ich könnte meine Freiheit verlieren. Weißt du, als Kind, als Jugendliche, da heißt es dann immer, man sei ja noch ein Mädchen und Vieles wird einem so einfach verziehen, weil man davon ausgeht, dass es aus Erfahrungsnot heraus geschieht. Aber jetzt beginne ich zu merken, dass ich allmählich erwachsen werde. Und die Fragen beantworten sich nicht einfach, es kommen neue Fragen, weitere Fragen. Und manchmal, da habe ich das Gefühl, die Freiheit, die wir noch haben, wenn wir älter werden ist, nicht auf alles eine Antwort zu finden. Nicht alles beantworten zu müssen.“
Dann sitzen wir zehn Minuten lang einfach da. Ich möchte garnichts sagen. Es sind ihre Gedanken, die die Luft füllen, es ist ihr Moment. Ich fühle mich wie ein Glas, dass gefüllt wird, mit einem Tropfen Wein, der über Jahre gereift ist. Ich fühle, dass ihre Wort unter meiner Haut warm werden. Und ich hoffe, dass sie einen Schluck von mir nimmt. Das ist ihr Moment. Jetzt muss sie es tun. Bitte.

„Und was meinst du?“, fragt sie plötzlich und genau in diesem Moment dreht sie sich dann doch zu mir und sieht mir ins Gesicht, sieht mir auf die Augenbraue und folgt der Schläfe hinunter bis zum Mund, bleibt dort kurz mit ihrem Blick stehen, grübelnd, zieht dann weiter zum Hals, meinen Händen und dann blickt sie einfach wieder nach vorne.
„Was ich meine… Ich meine, dass es auch Freiheit ist, bestimmte Fragen nicht zu stellen. sich etwas offen zu lassen, zu hoffen und zu träumen. Die Türen nicht zu schließen, weil wenn man erstmal weiß, dann weiß man einfach und manche Türen bleiben dann verschlossen, ohne dass man noch überlegen kann, durch sie hindurchzugehen oder es zu lassen.“

Dann herrscht wieder Stille.
Nach einer kleinen Ewigkeit zwitschert ein Vogel. Ich blicke vom Asphalt vor uns auf, es dämmert allmählich. Ich habe keine Ahnung, wie lange wir hier gesessen haben. Ich höre mich in Endlosschleife meine letzten Worte in meinem Kopf erneut sagen.
„Ich sollte jetzt nach Hause gehen, Torben.“, sagt sie und steht auf.
Im Aufstehen drückt sie mir einen Kuss auf die Wange. Einen warmen Kuss. Ein flüchtigen.
In ihrem Blick lese ich, was auch ich denke. Dass wir gerade wieder etwas älter wurden. Ich beginne zu fürchten, dass wir durch das dünne Eis, auf dem wir ritten, durchzubrechen drohen, wie zwei, die zuviel vom Leben kennen, um auf Wolken zu tanzen.. Vielleicht waren wir einfach zu tief, jetzt gerade. Zu tief für einen unbeschwerten Sommer. Vielleicht bräuchten wir die Fragen und die Antworten. Vielleicht. Scheiße. Ich fange an zu denken wie kleine Mädchen auf einer Internetplattform für Mittelmäßige. Das ist nicht die Farbe, die ich trage.
Ich habe keine Ahnung.
„Mach es gut, kleiner Meisenmann“, sagt sie, winkt mir zu und dann geht sie in die aufgehende Sonne. Alleine.
Ich bleibe noch eine Weile sitzen und seufze tief in mich hinein. Dorthin, wo meine Worte herkommen. Meine Gedanken. Gefühlschaos

Dann gehe ich auch nach hause.
Mehr und mehr Vögel beginnen, zu zwitschern. Auf der Straße kommen mir Pärchen entgegen, umschlungen, die sich jetzt in ihre Betten verkriechen. Wieviele von ihnen wohl glücklich werden? Wieviele von ihnen wohl glücklich sind?
Betrunkene Penner torkeln Lieder gröhlend vorbei. Singen davon, dass die Liebe eine große Schlampe ist. Der erste Bus läutet das Aufwachen des Alltäglichen ein.

Es kommt, wie es kommen muss. Manchmal läufst du tagelang herum, als hätte die Welt dir einen Gratisflug ins Land der Liebe geschenkt und plötzlich hast du das Gefühl, du hast dein Ticket verloren.
Das andere Mädchen hatte also einen Freund und ich frage mich, wieso sie ihn betrügt. Ich glaube, sowas tut man nicht, wenn man glücklich ist Und sie wollte mir doch signalisieren, dass sie eigentlich glücklich sei. Oder?. Doch was tue ich selbst? Svenja hat Tom. Kann ich das einfach so weiterleugnen? Kann sie es? Ist Svenja mit Tom glücklich?
Hat das Mädchen ihren Freund betrogen, wenn zwischen uns garnichs lief? Ist ein Unfall Betrug? Bin ich ein Unfall? Was will Svenja? Was will ich?
Was will ich?

Ich habe keine Ahnung. Vielleicht überinterpetiere ich herum, mache mir zuviele Sorgen. Ich muss morgen mit Anja sprechen. Morgen, wenn ich nüchtern bin. Das ist der letzte Gedanke, den ich fassen kann. Klar fassen kann. Dann fall ich in mein Bett und schlafe ein.

Montag, 9. August 2010

Tag 4/2: Der Abend. Endlich! Da steht sie. Vor mir.

Seit Tagen sind meine Nerven angespannt wie eine Gruppe Erstsemester vor ihrem ersten Hochschulreferat. Das Ziel vor meinen Augen hat eine gute Weile darauf gewartet, wann es sich mir stellt. Jetzt, endlich. Ich bin froh. Ich bin da.
Da.
Da steht sie. Vor mir.
Ich muss schlucken. Schwindsucht.
Sie trägt eine rot-weiß-karierte Bluse. Sie sitzt perfekt. Ich schlucke.
„Schön, du bist da. Und wie pünktlich du bist!“, sagt sie.
„Ja…“, huste ich hervor und merke, wie meine Handinnenflächen kleine Bäche gebären.
„Dann komm mal rein“, lockt sie mich, ihre Hand fährt hoch zu meiner Schulter, mit einem Finger, einer einzigen Fingerkuppe berührt sie mich. Mein Körper möchte ekstatisch platzen. Mit einer einzigen Fingerkuppe schiebt sie mich in ihre Wohnung.

Die Wohnung ist hell, das ganze Weiß springt mich sofort an. Und sie ist, so stellte ich mir in meiner Jugend im Erdkundeunterricht das geteilte Berlin vor, mit einer unsichtbaren Wand, die das geräumige Flurkreuz in drei Sektoren aufteilt, durchzogen, die sich in den Eckpunkten Küche, Wohnzimmer und Bad überschlagen, vermischen und ein chaotisches Bild zeichnen. Ich versuche, Svenjas Handschrift herauszufiltern. Versuche, zu sehen, was ich sehen möchte. Und es klappt.
Dann sitzen wir plötzlich im Wohnzimmer auf einem knallroten Sofa. Der Höflichkeitsabstand beträgt einen Meter.

Sie trägt eine blaue, knusprig anliegende Jeans. Ich mag das. Das Hosenbein hat sie bis über die Knöchel umgeschlagen, sie trägt dazu knallgrüne Flipflops. Schärfster Kontrast zum Sofa. Ich mag ihre Füße.
An der Wand hängen schwarzweiße Bilder, Stadtszenen aus Paris, London, Rom.
„Deine Bilder?“
„Nein!“, sagt sie und lacht sofort, fährt sich mit ihrem Finger durch das Haar.
Ich klammere mich daran fest, hier alles beobachten zu können. Sie merkt es scheinbar.
„Was möchtest du trinken, Singstar?“
„Was hast du denn da?“.
„Ich habe eine Idee…“. Sie beißt sich in die Unterlippe, ganz kurz, wie das Aufflackern eines Feuerzeuges, blitzt kurz mit ihren Augen in meine, hüpft vom Sofa auf und verschwindet in der Küche. Zeit, um mich zu sammeln, um kurz durchzuatmen.

Sie ist heiß. Aber wieso fällt mir jetzt erst auf? War sie es bislang nicht? Woran liegt es, dass ich es jetzt erst merke? Mein Puls reguliert sich schleichend, die Hände kommen zur Besinnung. Ich schaue mich um, stehe auf, tigere durch das weite Zimmer, stehe am Fenster. Die Fensterscheiben sind so fein geputzt, dass man sie nur anhand der Wassertropfen bemerkt, die durch den Schauer allmählich dort auftreffen und sich ihren Weg bahnen. Ich berühre das Glas, um sicher zu gehen, dass sie wirklich da sind, ziehe meine Hand aber sofort wieder weg. Fingerabdruck. Schlechtes Gewissen. Es ist ein wenig so, als hätte ich so eben durch meinen Fingerabdruck, durch den Schmutz meines Daseins eine mikrokosmische Ordnung ins Wanken gebracht. Als wäre ich in ein Biotop eingedrungen, das sich gegen meine männliche Anwesenheit nicht wehren kann. Hier ist es zu sauber, beinahe klinisch. Ich spüre bereits das Trippeln einer osteuropäischen Putzfrau, nein, das Trippeln einer kleinen Wirtschaftsstudentin im knallroten Kostüm, passend zum Sofa, die reinkommt, mich entdeckt, mit einer riesigen Flasche Glasklar ansprüht und mit der rauen Seite eines riesigen Blitzi-Schwammes aus dieser Welt schrubbt. Auf meinem Grabstein steht "Weggeputzt", die Beerdigungsgäste haben alle Schutzfolien um ihre Schuhe, um den Rasen nicht zu beschädigen.

Da thront er, mein Fingerabdruck, wie ein Mahnmal, bedrohlich auf der sauberen Fläche. Ich hauche die Fensterscheibe an, nehme ein Tempotaschentuch aus meiner Gesäßtasche und entferne ihn.

„Was machen sie denn da? Ist es nicht sauber genug?“
Ich drehe mich um, Svenja feixt mich an.
„Nein, das ist ja unerträglich schmutzig hier, da war ich wirklich gezwungen, erstmal auszubessern!“
Sie lacht.
„Du hast an die Scheibe gefasst, ne?“
„Ja…“
„Das passiert mir auch andauernd, aber ich mache mir nie die Mühe, das wegzuwischen“
„Wieso nicht?“
„Wieso wohl?“
„Tjaaaaaa…“

Sie stellt zwei große, bunt gefüllte Gläser auf den Tisch.
„Probier mal!“
Ich nippe.
„Mhmmm! Was ist das?“
„Großmutters Geheimmischung.“
„Wollen sie mich etwa betrunken machen und verführen?“
„Wer weiß?“

Sie legt Musik auf, läuft etwas durch das Wohnzimmer. Ich muss ihr dabei kurz auf den Po sehen und danach meine Erregung verbergen. Es ist hier sehr warm, draußen prasselt es inzwischen so richtig nieder und als die Musik einsetzt, hockt sich Svenja vor mich auf den weißen Teppich, nippt an ihren Strohhalm und beginnt zur erzählen, was sie heute so tat.

Ich halte mein Gehör hin und verfolge dabei mit meinen Augen die Bewegungen ihrer Lippen, versuche mir vorzustellen, wie es wohl sein wird, an ihnen zu knabbern. Schau in ihre Augen, wenn sie kurz aus dem Fenster blickt, während sie überlegen muss, wie ihre Ausführungen weitergehen sollen, ich erkenne ihre Augenfarbe nicht genau.
Auch wenn ich sonst jedes Wort von ihr einatme, aufsauge, als wenn es noch einmal für eine Prüfung in meinen Leben entscheident sein wird, im Moment prallen sie an meinen meiner Stirn ab, ich bin unfähig, etwas davon zu behalten. Mir scheint es, ich sei etwas überfordert und gleichzeitig gebannt, so wie damals, als ich als Schulkind im Unterricht saß und das erste mal sah, wie Schnee fiel und ich an nichts anderes mehr denken konnte, als sofort rauszurennen und ihn zu berühren.

Und mit Menschen ist das wie mit Schnee, man muss immer aufpassen, wie und wann man sie anfasst, berührt, damit sie nicht unter der Hand wegfließen und nie wieder kommen.

„Und was hast du heute so getrieben?“
Draußen regnet es immernoch, es wird langsam kühler, ich frage mich, wieviel Alkohol wohl in diesem Cocktail war. Meine Wangen werden warm. Das Zimmer wird kurz erhellt, als die Sonne für einen Augenblick durch die Wolken hindurchbricht.
„Torben?“
„Ähm?“
„Wo bist du?“
Ich werde rot.
„Bei dir. Sorry, ich habe gerade versucht, herauszufinden, welche Augenfarbe du hast und mich dabei wohl so sehr konzentriert, dass ich plötlich wegtrat. Sorry.“
„Grün…“, sagt sie „… du Fratz.“
Sie kichert vergnügt, beugt sich zu mir nach vorne, gibt mir ein Küsschen auf die leicht glühende Wange. Es fühlt sich an wie ein Stück Schnee auf der Haut. Dann nimmt sie das leere Glas, steht erneut auf und verlässt mich wieder in Richtung Küche.
Wie kann sie mich mit dieser Geste jetzt alleine lassen? Argh!
Ich bemühe mich ebenfalls hoch und gehe ihr hinterher.

Da steht sie, füllt Säfte in ein Glas, gibt Rum dazu, Wodka, Kokosraspeln, Sahne und gecrushtes Eis. Sie singt vor sich hin.
Ich stelle mich direkt hinter sie, schaue ihr über die Schulter.
„Und was singst du da?“
Sie dreht sich, merkt, wie nahe ich stehe, landet in meinen Augen, zuckt leicht, errötet selber und dutzt kurz.
„Ehm, das ist Where the wild roses grow.“
„Und du bist Elisa Day?“
„Aber du möchtest mich doch nicht tot finden?“ sagt sie und legt eine verspielte Schüchternheit in ihren Blick. Jetzt fass ich sie an der Schulter.
„Niemals. Ganz anders.“
„Das ist schön.“
Dann singt sie weiter, während wir gespannt stehen bleiben.
„ They call me The Wild Rose
But my name is Elisa Day
Why they call me it I do not know
For my name is Elisa Day“
Das Eis klackert in das zweite Glas wie Perlen auf das Parkett eines großen, einsamen Hauses.
Dann versuche ich, meine Stimme auf Nick Caves Tiefe herunterzuschrauben.
„ From the first day I saw her I knew she was the one
As she stared in my eyes and smiled
For her lips were the colour of the roses“

So hört sie auf zu mixen, starrt mich an, ist überrascht. Auch ich bin überrascht, wie gut ich in diesem Moment den Ton getroffen habe. Ich stiere ihr auf den Mund, ihr Schneidezahn tritt leicht hervor und knipst kurz in die Unterlippe. Als meine Hand zu ihren Hals wandert, drillt es schrill an der Haustür.
Wir schrecken beide auf.

„Oh Ah!“. Sie stottert.
„Du kriegst noch Besuch?“
„Eigentlich nicht. Ah. Äh. Hm. Ich muss mal nachgehen sehen.“

Übereilt verlässt sie die Küche, ich greife mir einen der beiden Drinks, nippe, schmecke, wie mich der Geschmack wieder auftaut und ich höre, wie sich im Flur die Tür öffnet, höre Frauengekicher, das die ganze Etage erfüllt und wie zwei Personen herein kommen. Ich höre das Geklacker von Bierflaschen, höre Svenja: „Aaah, was macht ihr denn hier. Was eine Überr…eh…raschung!“
„Ja, wir dachten wir komme mal wieder vorbei und überfallen dich zum Vortrinken.“
Dann luken sie in die Küche, glotzen mir ins Gesicht und erstarren.
„Ach, du hast ja schon Besuch?“
„Ja! Das ist Torben.“
„Hallo Torben“, sagen die beiden Mädchen.
„Hi“, entgegne ich.
Svenja sieht zu mir rüber und zuckt etwas unvermittelt mit den Schultern, bittet die beiden dann ins Wohnzimmer, kommt wieder zu mir in die Küche, nimmt sich das zweite Glas.
„Das war eigentlich nicht der Plan. Aber du weißt ja, wie Freunde sind… . Oder?“
„Ja, das weiß ich“ sage ich und bemühe ein joviales Lächeln.
„Mein Nick Cave“, sagt sie, nippt an ihrem Glas, sieht mir tief in die Augen und dann gehen wir zu den Damen herüber.

Die beiden reden die ganze Zeit über Universitätsdinge, Klausuren, neuen CDs und es fällt mir schwer, ihnen zu folgen. Abundzu berühren sich meine Blicke mit Svenjas. Es wirkt fast so, als würden wir mit den Augen Händchen halte und doch ist sie auf dem anderen Ende des Wohnzimmertisches wie durch eine vierspurige Wortschnellstraße von mir getrennt, während die beiden Freundinnen den Raum in eine verbale Luftpolsterfolie packen, die jedes Näherkommen unterbindet.
Ich beginne, aus dem Fenster zu sehen, an die Gesangseinlage in der Küche zu denken, mich zu ärgern, wie knapp das war. Beginne, mich zu freuen, wie knapp das war und stöbere dann in der WG-CD-Sammlung.
Paolo Nutini trifft Bee-Gees trifft Interpol trifft Arctic Monkeys tritt Roger Cicero, Yvonne Catterfeld, eine ganze Beatsteaksdiscographie, eine Beatles-Discographie, eine McCartney-Single und ich bleibe am The Killers Album kleben.
Ich öffne sie, lege sie in den Player und skippe auf "Somebody Told Me", grinse zu ihr rüber. Sie merkt es sofort, schnalzt kurz und entschlossen mit der Zunge, zischt leicht, wird etwas rot, schüttelt mit dem Kopf und muss dann lachen.
Die beiden Freundinnen sind so in ihr Gespräch vertieft, dass sie davon nichts registrieren.

Der Abend verstreicht, ein Glas nach dem anderen leert sich und am Ende findet sich eine beachtliche Anzahl an unterschiedlichen Glassorten und Bierflaschen auf dem Wohzimmertisch. Gemeinsam versuchen wir, das geringe Chaos aus dem ordentlichen Kosmos zu entfernen, um das WG-Thermometer nicht zum Ausschlag zu bringen, bis Svenja schließlich vor uns tritt und bekannt gibt, welche Disco sie für heute abend ausgesucht hat.

Es ist Nacht.
Der Regen hat sich inzwischen verzogen, als wir das Haus verlassen und die Wolken geben Blicke auf die Sterne frei. Die Straße ist mit einem Regenfilm überzogen und es knatscht unter unseren Schritten. Wir laufen 20 Minuten, leeren weitere Flaschen Bier, die wir in einem weißen Plastikbeutel mit uns führen.

Wir sind inzwischen völlig befreit und meine anfängliche Abneigung gegenüber Svenjas Freundinnen ist inzwischen verflogen. Während die rote Ampel uns an einer Kreuzung aufhält, gibt es unter Gekicher eine zweite Vorstellungsrunde. Sie heißen Sybille, auch genannt Sylle und Mira, die lieber Katze genannt werden möchte. Auf Svenjas Hinweis hin stelle ich das auch nicht in Frage, sondern nenne sie einfach so.
Als wir die Ampelkreuzung überquert haben, klemmt sich Svenja unvermittelt bei mir ein, ihre Finger schieben sich zwischen meine, sie lehnt ihren Kopf kurz auf meine Schulter und sagt leise „Ist doch garnicht so schlimm gelaufen, jetzt, oder?“.
„Ja“, sage ich, streichel mit meinem Daumen kurz über ihren Handrücken, damit sie mein Ja nicht als Ironie missversteht.
„Magst du die beiden denn ein bisschen?“
„Am anfang fande ich sie schon etwas nervig“, flüster ich,“aber ja, eigentlich sind sie echt nett. Du wirst ja auch einen Grund haben, dass du mit ihnen befreundet bist.“
„Ja, den habe ich“, lacht sie, drückt mich kurz, dann rennt sie zehn, zwanzig Schritte voraus, bleibt stehen, hüpft, dreht sich und wir wissen, dass wir angekommen sind.

Die Disco ist vollgepfropft, die Tanzfläche platzt beinahe und die Stimmung ist ausgelassen. Doch dann befällt mich, welche Musik man uns hier heute bieten wird.
Es ist ein Ska-Abend. Wie von einem Zirkusorchester dröhnen die schrägen, kitschigbunten Melodien aus dem bemitleidenswerten Boxen zu denen die Menschen in wilden Ausfallschritten umeinander herum hüpfen, als hätten sie sich auf dem Weg in die Villa Kunterbunt verlaufen.
Ich sehe Svenja an.
„Das ist aber jetzt nicht dein Ernst!“
„HAHA“
„Ich bitte dich!“
„Nein, das ist nur ein kleiner Scherz, ist ja heute eh umsonst. Wenn wir zuerst hier sind, genießen wir die andere Musik nachher mehr.“
„Hmm. Nagut. Aber echt mal, das ist doch hier eine Afterworkparty von den Sozialpädagogen. Soviel Ethnoheinis gibt es in ganz Afrika nicht.“
„Jamaika!“
Plötzlich läuft, etwas aus dem musikalischen Zusammenhang gerissen, NOFX und die ganze Partymeute raster völlig aus, schubst sich hüpfend rum, selbst auf den Rängen. Alle brüllen sie „Kill all the white mon!“.

„Kill all the white men? Was glauben diese verwöhnten Lehrerkinder denn, wo sie dann bleiben?“
„Hehe, das frage ich mich auch immer. Bier?“
„Ja, das ist nötig.“
Wir schieben uns an die Theke, als ich von so einer Dreadlocks tragenden einfünfundneunzig großen Bergziege gefragt werde, ob das neben mir meine Freundin sei.
„Ja“, sage ich und kann mir nicht vekneifen, noch nachzusetzen.
„Darf ich auch etwas fragen?“
„Klar!“, antwortet der etwas nach drei Tagen Wasserausfall riechende junge Mann.
„Alles ska?“
„Haha, witzig!“, sagt er.
„Nicht wirklich“, antworte ich.
„Was hast du denn gegen mich?“
„Was hast du denn gegen dich?“
„Uff!“
„Achso. Nagut, wir müssen dann auch mal weiter“, sage ich, schaue eindeutig zu meinen Damen rüber, woraufhin wir auf mein Betteln hin den Laden wieder verlassen.
Draußen wartet bereits Katze, zeigt auf mich und lacht.
„Du hättest deinen Blick sehen müssen, als die NOFX gespielt haben!“
„Geht so, ne?“, anworte ich.
Kommentarlos ziehen wir weiter, Svenja hakt sich erneut bei mir ein und wir schlendern vor uns hin, während sie ein neues Lied hervorsummt.
„Du bist auch ein kleines Musikkind, was?“
„Es müssen sich ja nicht nur immer Gegensätze anziehen“, antwortet sie und wir schauen gleichzeitig nach oben.

In der anderen Disco ist ein recht regulärer Abend angesagt, wir kämpfen uns wieder zuerst zur Theke durch, bestellen das nächste Bier. Als ich mich umsehe, erkenne ich vor allem viele junge Menschen. Die Musik ist besser als auf dem Ska-Abend, was auch nicht besonders schwer zu erreichen war. Insofern ist Svenjas Laufplan hervorragend aufgegangen. Ich störe mich nur wenig an dem stark routinierten Spiel des DJs, der offensichtlich eher zur Sorte Jukebox als zur Sorte Künstler gehört. Ganze Wellen an Menschen fluten an sein Pult, entladen ihren Wunsch und ebben zurück auf die Tanzfläche.

Wir nähern uns dem Schauspiel etwas an und bekommen mit, wie ein junges Mädchen auf Zehenspitzen stehend am Pult klemmt während sie sich lauthals „Deine Eltern sind auf einem Tennistornia“ von Remmi Demmi wünscht. Wir lachen parallel zum DJ los, der sofort eine Thekenkraft zu sich winkt und ihr davon erzählt. Auch sie fängt ohne Verzögerung an, zu lachen, rennt zurück zur Theke von wo aus sich das Lachfeuer im ganzen Laden ausbreitet. Innerhalb weniger Minuten avanciert die kleine Dame zur Prominenten des Abends.
Ein wenig tut sie mir dann schon Leid und ich habe ein schlechtes Gewissen, dass ich immer so gehässig bin. Aber dann bemerke ich, wie viele Typen diese Misgeschick nutzen, um sich an sie heranzuschmeissen. Also wird Ignoranz im Leben am Ende doch belohnt, halte ich fest und remple beim sinieren jemanden an. Es ist ein Mittzwanziger in Cordsacko, Hornbrille und mit einem braunen Seitenscheitel. Ich entschuldige mich. So kommen wir ins Gespräch. Es stellt sich heraus, dass er DJ aus einer anderen Stadt ist, der hier eine Freundin besucht und am Wochenende in diesem Laden ein Beatclub Special auflegen wird, sich daher den Club vorher schonmal ansehen möchte.
„Und was glaubst du, wie ist das Potenzial?“, frage ich.
„Läuft, läuft“, sagt er, „mit guter Musik kann man immer überzeugen.“
Ich erinnere mich an den Ska-Abend.
„Nicht nur mit guter, leider“
„Aber wir müssen ja nicht alles den Hunden überlassen.“
„Da hast du Recht.“
Wir stoßen an, trinken und er erzählt noch ein paar Wortwitze, von denen ich mir die die Hälfte sofort merken möchte und die andere Hälfte schon kenne. Er kichert bei jeder Pointe wie ein kleiner Junge, der einen Streich gespielt hat, was ihn mir sehr sympathisch macht.

Svenja kommt auf uns zu, ich stelle sie einander vor, dann will sie mich auf die Tanzfläche zerren. Ich verabschiede mich noch vom Gast-DJ mit dem Versprechen, mir seinen Abend anhören zu kommen und kurz darauf verlieren Svenja und ich uns in der Musik. Es ist selten, dass man beim Tanzen von Natur aus zusammenpasst, das man harmoniert, aber wir haben dieses seltene Glück, bauen kleine Poserstücke ein und nach zwei oder drei Liedern ist egal, was aus den Boxen kommt. Es geht nur noch um uns. Alles andere verschwimmt.

Sie zieht mich nah an sich heran, flüster mir „Nick Cave“ ins Ohr, küsst mich dahinter.
Ich will antworten, doch der Alkohol macht sich plötzlich in Unterkörper bemerkbar, ich zucke kurz zusammen. „Ich bin gleich für dich da“, sage ich, „nicht weggehen!“.
„Niemals“, sagte sie, lächelt, dann blickt sie nach oben und tanzt weiter, während ich zur Toilette eile.
Eine Schlange hat sich gebildet. Es dauert circa zehn Minuten, ehe ich endlich mein Geschäft erledigen kann. Es wird nicht einfacher, so lange inne zu halten, da ich zurück zu ihr will. Als ich endlich zum Zug komme und sichtlich aufgelockert wieder in Richtung Hauptraum gehe, sehe ich, wie sie sich mit einem Mädchen unterhält. Ich habe dieses Mädchen auch schon mal irgendwo gesehen.
Aber wor?
Wo zum Teufel?
Dann fällt es mir wieder ein. Es ist die, neben der ich am Sonntag aufgewacht bin. Scheiße. Die werden sich doch wohl nicht kennen? Was tue ich denn jetzt?
Sie redet hektisch auf Svenja ein. Sie drehen sich kurz zu mir. Svenja blick mich an. Verzieht den Mund. Ich kann diese Mimik nicht zuordnen. Dann drückt sich an dem Mädchen vorbei und verlässt eilig den Laden. Verdammte Scheiße. Was war das jetzt? Woher würde sie überhaupt wissen, das Svenja mit mir zutun hat? Hat sie uns beobachtet?
Will sie es mir heimzahlen?
Was soll ich jetzt tun?

Montag, 2. August 2010

Tag 4/1: Heute treffe ich Sie. Svenja. Aber der Tag klebt an meiner Sohle wie Kaugummi

Mittwoch
Die Luft steht. Sprichwörtlich. Es scheint mir, als habe der Tag bereits mit dreißig Grad begonnen, unsere ächzt Wohnung unter der Hitze. Mars, Anja und ich sind seit Acht wach, weil ans Schlafen gar nicht zu denken ist. Rettender weise hatte ich die Idee, uns kalte Schalen mit Wasser unter den Küchentisch zu stellen, in die wir alle unsere Füße reinhalten, während wir fernsehen und abwechselnd mit unseren Köpfen nach vorne kippen und kurz einnicken.

Nach etwa drei Stunden rafft Mars sich auf, stolpert wie ein Untoter zum Kühlschrank, holt drei Nektarinen, Orangen und Eier raus und beginnt, zu brutzeln und zu schnibbeln. Ich kann nur zu Anja rüber schielen, die meinen Eindruck teilt, dass es schon an Wahnsinn grenzt, ans Essen auch nur zu denken. Mein Magen und meine Speiseröhre - ich bilde mir ein, ich kann sie genau spüren, wie sie von den Strapazen dehydriert kleben. Aber, Mist, Ja! Trinken! Das ist eine Idee. Ich lache. So ist das nun, wenn man das früh aufstehen nicht gewöhnt ist - man vergisst die banalsten Dinge.
„Trinkäääään!“, wimmer ich langsam und gequält in die Runde, schaue hilflos und strecke einen Arm Hänsel-gleich nach vorn und hoffe, dass ich Anjas Muttergefühle wecke, sie mir etwas heran reicht.
Aber sie schaut noch gequälter zu Mars rüber, streckt auch ihren Arm aus und wiederholt
„Trinkääähääään! Jehehehehetzt!“.

Jeder Mensch, der uns nicht kennt, käme sofort auf die Idee, wir wären bloß verweichlichtes, kindisches Studentenpack, nicht so aber Mars, der es viel zu sehr genießt, wenn er gebraucht, gerade zu angebettelt wird. Er lässt seine Hand von der Pfanne ab, holt weitere Orangen, presst uns daraus O-Saft und bringt 3 Flaschen Mineralwasser aus der Abstellkammer dazu. Wie eine gierige Meute Schnäppchenjäger japsen wir das O-Saft-Glas in absoluter Rekordzeit runter, seufzen laut und erleichtert auf, kippen danach das laue Mineralwasser in uns hinein. Anja krönt dieses kurzweilige Schauspiel mit einem inbrünstigen und zugleich zutiefst zarten, weiblichen Rülpser. Mars küsst sie auf die Stirn und verzeiht uns.

Ich versichere ihm daraufhin, dass er der beste Mitbewohner auf der Welt sei und dass, wenn ich eine Frau wäre, sicher feste Absichten ihm gegenüber hegen würde, trotz aller platonischen Liebe zu Anja, die, als sie dies hört, nur pikiert mit der Zunge schnalzt, mir auf die Schulter klopft und in angekratzer Souveränität ein „Träum weiter“ in mein Gesicht haucht. Ihr Atem riecht nach acht Stunden Schlaf und Orangenfruchtfleisch.
Erotisch.
„Sagt mal, träumt ihr auch immer so scheiße, wenn es draußen so warm ist?“, fragt Mars uns plötzlich, während er weiter in der Pfanne mit dem Ei rumstochert.
„Nee, wieso“, antwortet Anja, während ich mich daran erinner, wie beklemmend mein Traum in dieser Nacht war. Der Traum, der neben der Hitze dazu geführt hat, dass ich so früh aufwachen musste.
„Naja, ich träum dann manchmal, dass es brennt. Nicht so schön.“
„Ich habe heute auch wirklich einen abgefuckten Mist geträumt“, werf ich ein, „da wusste ich beim Aufwachen garnicht, ob ich von der Hitze verschwitzt bin oder von der Aufregung.“
„Das klingt übel."
Ich nicke Mars zu.
„Das würde mich jetzt aber schon interessieren, was du genau geträumt hast.“
Ich grübele los, versuche, die Bilder nocheinmal zusammenzustreichen. Oft ist mir kurz nach dem Traum noch genau klar, was ich geträumt habe, so, dass ich mir einbilde, ich könnte es nie wieder vergessen, aber meist verschwinden diese Erinnerungen dann innerhalb weniger Stunden. ..“
Ich erzähle von einem Traum, bei dem ich im Haus meiner Eltern gefangen bin und von außen erst Räuber und dann kannibalische Kinder eindringen wollen. Nachdem das Haus mit den blutrünstigen Kindern übersät ist, rette ich mich, in dem ich sie abschlachte, bevor sie mich verspeisen können.
„Das war aber nochmal knapp“, staunt Mars sofort und ich sehe, wie die beiden mich anstarren, wie sie erst mit fiebern und plötzlich erleichtert aufatmen.


„Oh MEIN GOTT! Ich glaube, ich hätte einen Herzinfarkt bekommen, bei diesem Traum“. Ich sehe zu Anja und bemerke, wie ihre Hand zittert. Ihre einfühlsame, sensible Art spüren viele im Alltag kaum.

Das Schlimmste für mich wäre, wenn einer sagen würde, dass ich doch krank sein muss, um so ein Zeug zu träumen. Oder wenn Anja jetzt anfangen würde, den Traum psychologisch zu analysieren. So von wegen Freud und Libido und unterdrückter Sexualität und all dieser Kram. Aber sie legt ihre Hand auf meine Schulter. Und Mars serviert das Rührei.
Im Grunde genommen, denke ich, ist es doch besser, in einen Tag, an dem ich mit Sicherheit Svenja sehen werde, mit einem Alptraum zu starten, als wenn ich glücklich aufwache und es von diesem Punkt auch nur noch schlimmer wird. Wie fein man sich alles zusammenzimmern kann. Ich lächele und Mars entgegnet mir „Siehst du, wenn der Papi kocht, da sind auch all die bösen Träume gleich vergessen“.
„Ja, du bist mein Private Johann Lafer, nur ohne die zehn Millionen Jahresumsatz.“
„Hmpf! Die kannst du mir aber ruhig auch geben.“
„Wenn ich sie mal irgendwann über habe, kriegst du sie! Versprochen!“
Ja, ich werde heute Svenja sehen. Sie freut sich auf mich, es wird um sieben sein. Um sieben. Soviel Zeit für uns, bis es dann wohl Tanzen geht. In welchen Laden wird sie mich wohl entführen wollen. Worauf sie wohl tanzt? Sigur Ros hört sie, das weiß ich ja, aber sonst?
„Rührei. Mhmm!“ Ich zähle die Sekunden, frage ich mich, was ich anziehen soll, was sie wohl anziehen wird, wie es bei ihr aussieht, ob es zu etwas kommen wird. Ob ich Kondome mitnehmen soll? Wird sie mich verführen wollen? Wird sie wollen, dass ich sie verführe? Am besten sollte ich alles auf mich zukommen lassen, ich werde es früh genug sehen.
Blick auf die Uhr. 12:48. Ich werde es in exakt sechs Stunden und zwölf Minuten genauer wissen.
……… ..

Der Nachmittag will kein Ende nehmen. Wie eine endlos lange Straße auf dem Weg zwischen zwei Dörfern, wie die Rede des Rektors in der Aula am ersten Unitag, der Referat eines Kommilitonen mit nerviger Stimme, wie Regen im April, es würden mir noch viele Beispiele einfallen, denn mir ist langweilig und die Zeit will sich einfach nicht totschlagen lassen.
Ich stöbere in alten Briefen herum - ich habe sie in einer großen schwarzen Box gesammelt. Oft, wenn ich das Gefühl habe, ich stehe vor etwas gutem Neuen, dann öffne ich sie, erinnere mich an gute vergangene Zeiten. Liebesbriefe, kleine Nachrichten, die den Weg beschreiben, der hier her führt. Ich lese einen Brief, sie schrieb mir ein Gedicht von Paul Celan. Es passt gerade sehr gut.

Es ist Zeit, daß der Stein sich zu blühen bequemt,
daß der Unrast ein Herz schlägt.
Es ist Zeit, daß es Zeit wird.

Es ist Zeit, dass es Zeit wird. Der Brief riecht nach Vanilla Kisses von Impulse. Das haben damals zwar fast alle Mädchen getragen, ich fand es trotzdem sexy. Heute riecht es ein bisschen nach kleinem Mädchen, aber wir waren jung. Der Geruch ist inzwischen eher bitter, verlebt, aber das kann auch an dem verdammt heißen Wetter liegen.
Wenn es stimmt und überall in der Luft Staubmilben sind außer in keimfreien Laboren, dann könnten sie Staubmilben gerade sicher auf meiner Stirn eine kleine Poolparty veranstalten, sich mit Cuba Libre besaufen und wilden Sex haben. Wilder Sex. Svenja.
Ich gehe in die Stadt. „Eis. Jetzt!“

…..

Auch in der Stadt steht die Luft, ich Blicke auf die Uhr, 17:10, es wird nicht später. Es ist ganz so, als ob die dicke, schwere Luft sie vom Laufen abhalten würde, als ob sie man sie auf den schwelenden Asphalt drücken würde wie eine russische Ringkämpferin ihre körperlich unterlegene Gegnerin aus Nigeria.
Speckige, weiße Waden springen mir überall entgegen, schwarze Flipflops aus dem H&M sind die Trendfußmode der jüngeren Männer. Ein junges Mädchen mit Slipons, weißen Kniestrümpfen mit blauen Kringeln und einer kurzen Short, sie ist vielleicht 17, tigert an mir vorbei. Wäre vielleicht unter normalen Bedingungen noch irgendwie… kinky, aber bei solchen Temperaturen packe ich mir einfach an den Kopf, Kniestrümpfe bei gefühlten 45 Grad, wie nötig kann ein Mensch es denn haben? Sie ist doch noch jung. Was wird Svenja wohl anhaben? Rotlichtkino im Kopf. Ich merke, wie meine Jeans sich vorne beult. Jetzt schnell ein Eis.
Es hilft. Waldmeister und Vanille, cremig.
„Waldmeister?“, sagt eine Stimme neben mir.
Ich drehe mich. Sie ist klein und dicklich, hat rotgefärbte, schlecht rotgefärbte Haare, ein Sternchentop, das nur mit Mühe zusammenhält, was niemand sehen will.
Ich verstelle meine Stimme.
„Pardon?“
„Waldmeister?“, wiederholt sie und deutet ein Lächeln an.
„Don’t speak german. What do you mean with What’s my stair?“
„Waldmeister! I... äh… askt ju… if ju… äh… Wuttmaster Eiskreme?“
„Sorry, i don’t get, your mister has a stair, what?“
„Ah, äh, ju laik jua Eiskreme?“
„What?“
„Forgitt et!“
„What?“
„Zorri!“
„What?“

Ihr Gesichtsrot verändert sich von blassem Spanferkel in gekochten Hummer und sie geht. Das wäre geschafft.

Eine kleine Katze läuft an mir vorbei, sie huscht geradezu vorbei, hüpft über meinen Schuh und streichelt mit ihrem Fell an meiner Haut vorbei. Es fühlt sich weich an, sie hat recht kühles Fell, so wie ich das auf die Schnelle beurteilen kann. Sie ist wirklich süß. Ich überlege kurz, ob ich sie nicht fassen soll, mitnehmen und Svenja als Geschenk überreichen. Aber dann wird sie sicher irgendjemand vermissen. Oder auch nicht. Sie ist ein freies Tier. Genau. Und ich darf sie nicht einfach in Abhängigkeit bringen, nur, weil sie putzig ist.
Sie biegt um die nächste Ecke. Thema erledigt.

Ich schlendere so noch eine Weile gedankenversunken durch die Gassen und komme wie aus Geisterhand ganz unvermittelt wieder zuhause an.
Viertel nach sechs, jetzt könnte ich gemütlich duschen gehen.
Doch dann fällt mir ein, dass ich in meiner Berechnung nicht berücksichtigt habe, wie lange ich zur ihr brauche. Wo wohnt sie überhaupt? Blick auf den Zettel.
„Mist“. Das schaffe ich kaum rechtzeitig.
„Anjaaaaaaaaa!“
Anja, kommt aus ihrem Zimmer.
„Duuu. Du musst mir helfen!“
„Aber immer doch. Worum geht es?“
„Ich habe gleich ein Date und brauche dein Fahrrad, weil es so weit weg ist und die Busverbindung scheiße ist.“
„Ein Date?“
„Argh. Ich muss noch duschen. Ich erklär dir das alles total ausführlich morgen, versprochen. Krieg’ ich’s nun oder nicht?“
„Ja, gut, aber morgen erfahre ich alles!“
„Auf jeden!“
Sie geht an ihren Schreibtisch, kramt den Schlüssel raus und schnippt ihn mir rüber. Meine WG. Meine Familie. Hach.

In Windeseile geduscht, ich habe Glück, nach dem Föhnen sitzen die Haare perfekt. Das Shirt fällt passend, hat keine Falten, ich bin genau aus der richtigen Form geschmiedet. Es kann losgehen.

Ich schwinge mich aufs Rad und fahre los. Los, los, los. Über mir donnert es plötzlich. Wind zieht auf. Es wird dunkel und kühlt innerhalb von Minuten ab. Der Wind wird stärker. Er jagt mich durch die ganze Stadt. Gewitter in Verzug. Los, los, los. Als die ersten Tropfen meine Haare berühren, komm ich an. Hübsche Straße. Ich klingele, sieben Uhr zwei.
Es surrt, ich öffne. Draußen platzt es aus allen Wolken, die Wassermassen knallen auf die Straße. Ich gehe die Treppe hoch. Es schimmert durch die dunklen Wolken nur gedimmtes Licht durch die Fenster im Treppenhaus. Herzblattatmosphäre.
Da steht sie im Türrahmen. Als hätte sie die Hitze aufgenommen. Sie ist heiß. Svenja.
Ich bin bereit.
„Da bist du ja!“
„Ja“, lache ich.
Sie kommt auf mich zu.